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Johannes Kruse, Wolf Langewitz, Antonius Schneider, Wolfgang Söllner, Christiane Waller, Kerstin Weidner, Stephan Zipfel (Hrsg.)

Versorgung gestalten in vulnerablen Lebenslagen

Urban & Fischer Verlag/Elsevier GmbH, 9. Auflage 2025, 1136 Seiten, 159,00 €, ISBN 9783437218354

Wer wünscht sich nicht, im Falle der eigenen Erkrankung, „ganzheitlich“ als Mensch in seinem Bezugssystem wahrgenommen und behandelt zu werden? Auf die Idee, dass die Beziehung von Ärzten und ihren Patienten relevant sein könnte, kam schon Michaël Balint durch die Beobachtung, dass der Heilerfolg bei derselben Krankheit mit denselben Medikamenten bei unterschiedlichen Ärzten verschieden ausfiel. Daraus schloss er, dass die Beziehung zwischen Arzt und Patient zumindest einen bedeutenden Einfluss auf den Behandlungserfolg hat. Folgerichtig nahm er an, dass durch ein Reflektieren schwieriger Situationen mit anderen Ärzten eine Beziehungsgestaltung verbessert werden könnte. Nicht der Fall oder dessen (Fall-)Pauschale sollte im Vordergrund stehen, sondern der sehr individuelle Patient und darüber hinaus auch eben als wichtige Komponente die Beziehung zwischen Arzt und Patient.

Wer, wie Thure von Uexküll 1979 in dem Vorwort zur ersten Auflage davon ausgeht, dass „psychosoziale Einflüsse auf Entstehung, Verlauf und Endzustände von Krankheiten ebenso wichtige und legitime Probleme für die Heilkunde aufwerfen, wie die Einflüsse physikalischer, chemischer oder mikrobiologischer Faktoren“, der kommt kaum an dem Standardwerk der Psychosomatik, „dem Uexküll“ vorbei. In diesem Sinne gilt schon seit der ersten Auflage ein Großteil des Gesamtumfangs unmittelbar dem Thema des Patientenzentrierten Handelns. Idealerweise wird „Psychosomatik“ dabei zu einer Haltung und Einstellung innerhalb der Gesundheitsversorgung, die sowohl die biomedizinischen als auch die psychosozial-soziokulturellen Aspekte von Krankheit und Gesundheit erfasst und gegebenenfalls behandelt – ein wahrhaft hoher Anspruch.

Im kassenärztlichen Alltag oder im Fall pauschal abrechnender Krankenhäuser wird dies materiell nicht begünstig. Auch die Auslagerung des „Psychischen“ an den „Psycho-Konsiliardienst“, teilweise mit schon abgrundtiefen Begründungen wie „Patientin weint…“ oder „Patient ist widerständig“, sowie in die psychologischen Praxen oder psychosomatischen Reha-Kliniken vertiefen eher den Graben, den Thure von Uexküll überwinden wollte, als er die „Psychosomatische Medizin “ nicht als ein „neues Spezialfach, … sondern [als] eine alle Zweige der Medizin betreffende neue Forschungsrichtung“ proklamierte. Ein Querschnittsfach sollte es sein, dem Psychotherapeuten den Körper nahebringend, dem Organmediziner die Psyche – und das möglichst in der Beziehung zum Patienten und seiner Umwelt. 

In den über 1.000 Seiten mit über 100 Kapiteln, davon 39 neu verfasst, in der nun 9. Auflage des „Uexküll“, ist es gelungen, diese Personale Medizin (und Psychologie) in den Mittelpunkt der Darstellungen zu rücken. 

Über die klassischen Themen hinaus wird behandelt

  • Digitalisierung und Künstliche Intelligenz in der Medizin
  • Umwelt, Klimakrise und Gesundheit
  • Gender
  • COVID-19-Pandemie und psychische Gesundheit
  • Diagnostik in der Verhaltenstherapie, Systemische und Familiendiagnostik, Funktionsdiagnostik (ICF)
  • Psychotherapie mit körperlich Kranken
  • Suggestive, achtsamkeitsbasierte und übende Verfahren
  • Versorgungsmodelle in der Familienpsychosomatik (Eltern-Kind-Station, Kinder- und Jugendpsychosomatik) sowie ambulante und sektorenübergreifende Versorgungsformen
  • Psychosomatische Grundversorgung
  • Nicht stoffgebundene Süchte
  • Berücksichtigung der neu formulierten diagnostischen Überlegungen der ICD-11, insbesondere im Bereich der funktionellen Körperbeschwerden und der Persönlichkeitsstörungen

Neu ist auch das Kapitel zur Arztgesundheit. In Aussicht gestellt wird, dass der Zugewinn an fachlicher Kompetenz und der Fähigkeit, diese flexibel einzusetzen, unsere Effektivität steigert, uns Wirksamkeit erleben lässt, unser Selbstgefühl und unsere Zufriedenheit im Beruf fördert. „Ein Circulus benignus kommt in Gang: Kranke bringen zufriedenen Ärzten mehr Vertrauen entgegen, bewerten deren Leistungen eher positiv, kommen zuverlässiger in die Praxis, befolgen Verordnungen konsequenter und erreichen bessere Behandlungsergebnisse.“ So berichten Teilnehmer der Psychosomatischen Grundversorgung im Verlauf über verschiedene Facetten einer  Steigerung  ihrer  Berufszufriedenheit – und einen anderen Blick auf das eigene Selbst. 

Wenn man die Fülle der behandelten theoretischen und klinischen Themen sowie die lange Reihe der prominenten Beiträger zu diesem Standardwerk bedenkt, erahnt man welche unendliche Mühe, Geduld, Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit sowie intellektuell-geistige Arbeit in einem derartigen Mammutunternehmen steckt. 

Ich als rezensierender Leser habe vor allem von den Kapiteln profitiert, in denen ich nicht zu Hause bin. Aber  über die fundierten Einzelbeiträge hinaus ist die Leistung dieses Werks vor allem, dass darin die Idee und das Konzept einer integrierten Psychosomatik überzeugend dargelegt wird. 

Es mag an dem Realitätssinn des Verlages liegen, der sich traut, ein solch dickes Buch mit einem dafür bescheidenen, aber eben zu zahlenden Preis zu verlegen, wenn er fettgedruckt wirbt: „Dieses Buch sollten alle ärztlich oder psychotherapeutisch Tätigen im Regal haben, die für sich in Anspruch nehmen, nicht nur Symptome oder Krankheiten zu behandeln, sondern Menschen.“ Ich würde mir und den Behandelten wünschen, dass das Buch nicht nur als Trophäe im Schrank steht, sondern von Organmedizinern in die Hand genommen wird und idealerweise dann auch noch den Anstoß gibt, sich auf den Weg der psychosomatischen Grundversorgung und/oder in Balintgruppen zu begeben.  

Eine Rezension von Dr. med. Helmut Schaaf
Ltd. Oberarzt, Psychotherapie 

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