Mit einem Rezept führt der Weg für gewöhnlich zur Apotheke oder einem Therapieangebot. Nicht so beim Sozialen Rezept, englisch: Social Prescribing. Dahinter steht ein neuer, in England entwickelter Ansatz, der die Lücke zwischen hausärztlicher Versorgung und sozialen, nicht-medizinischen Unterstützungsangeboten schließen soll. Unter Federführung der Charité – Universitätsmedizin Berlin werden in den kommenden fünf Jahren 22 europäische Gesundheits- und Forschungseinrichtungen die Effekte des Sozialen Rezepts insbesondere bei benachteiligten Personengruppen untersuchen. Die Europäische Kommission unterstützt das Vorhaben mit rund 6,9 Millionen Euro.

Auch soziale Belastungen können krank machen. Für solche Situationen ist das Soziale Rezept entwickelt worden. Es soll den Zugang zu vielfältigen Unterstützungsmöglichkeiten erleichtern. Ärzt:innen überweisen hierbei Patient:innen an geschultes Fachpersonal, sogenannte Link Workers. Diese lernen die Patient:innen in Gesprächen besser kennen und helfen dabei, sie an Gruppen, Aktivitäten oder soziale Dienstleistungen in ihrer Umgebung zu vermitteln.

Leiden beispielsweise Patient:innen unter Einsamkeit, werden sie dabei unterstützt, sich etwa einem Kunstkurs oder einer Laufgruppe anzuschließen. Dort treffen sie auf andere Menschen und können positive Erlebnisse teilen. Oder es geht darum, Patient:innen zu helfen, die aufgrund einer Schuldenlast unter Schlafstörungen leiden. Sie erhalten Unterstützung bei der Navigation im Sozialsystem oder beim Zugang zu Schuldnerberatungen.

Trägt nun das Soziale Rezept dazu bei, dass wohnortnahe Angebote zur Verbesserung der Lebenssituation stärker in Anspruch genommen werden? Und kann es die Gesundheit vor allem bei Risikogruppen fördern? Das wollen die Forschenden in den nächsten Jahren auf europäischer Ebene herausfinden.

„Das Soziale Rezept ist ein innovatives Konzept, um Menschen mit sozialen Problemen aus der hausärztlichen Versorgung an Angebote vor Ort zu vermitteln“, erklärt Prof. Wolfram Herrmann, Leiter des europäischen Social-Prescribing-Projektes. „Bisher war dieser Ansatz nicht speziell auf die Bedürfnisse besonders gefährdeter Personengruppen zugeschnitten. Wir konzentrieren uns daher insbesondere auf ältere alleinlebende Menschen, LGBTIQ-Personen sowie Geflüchtete und Einwander:innen in erster Generation, um die Wirksamkeit des Ansatzes zu prüfen.“ Das Projekt wird eine vergleichende Studie zum Sozialen Rezept in acht Ländern umfassen. In fünf Ländern wird sie ergänzt durch eine qualitative Analyse, um Erfolgsfaktoren und Hindernisse beim Zugang zu den Angeboten zu erkennen.

Erste Praxen in Deutschland nutzen das Soziale Rezept

Während das Soziale Rezept in England bereits in der Versorgung angekommen ist, ist es hierzulande noch kaum bekannt. Ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördertes Modellprojekt startete unter Charité-Leitung im vergangenen Jahr. Unter den teilnehmenden Hausarztpraxen ist das MVZ Zerbaum und Kollegen in Brandenburg an der Havel. „Wir arbeiten hier an der Basis, wobei wir immer wieder Menschen antreffen, für die eine soziale Diagnose zutrifft“, sagt Dr. Benjamin Senst. „Die Menschen kommen mit körperlichen Beschwerden zu uns, die Ursachen sind aber häufig mit Wohnungsproblemen, finanziellen Sorgen, Schwierigkeiten bei der Arbeit, in der Beziehung oder mit Alkoholmissbrauch verbunden.“

Einmal wöchentlich besucht eine Link Workerin des Modellprojektes die Praxis Zerbaum, vermittelt gezielt an Beratungsstellen, soziale Hilfsangebote, Vereine, Entzugsbehandlungen. „Es gibt sehr viele Hilfsangebote, die oft nicht bekannt sind, oder zu denen die Menschen allein den Zugang nicht finden“, sagt Dr. Senst. „Wir können nicht allen weiterhelfen. Bei Menschen, die jahrelang nicht am gesellschaftlichen Leben teilhatten, ist es besonders schwer. Wir haben aber auch Erfolge, beispielsweise konnte ein Patient mit schwerem Belastungssyndrom in einen Stressbewältigungskurs seiner Krankenkasse vermittelt werden. Heute ist er gesund und wieder in Vollzeit tätig.“

Es gibt eine Vielzahl nicht-medizinischer Faktoren, die die Gesundheit von Menschen negativ beeinflussen. Das Soziale Rezept gilt als ein vielversprechender Ansatz, sie zu mildern. Bestätigt das europäische Social-Prescribing-Programm dies, kann es zur Transformation der Gesundheitssysteme in Europa beitragen. In England ist das Soziale Rezept mit mehr als 3.500 Link Workers schon jetzt zentraler Bestandteil der primären Gesundheitsversorgung.


Zur Pressemitteilung: https://www.charite.de/service/pressemitteilung/artikel/detail/wenn_antistresskurs_oder_berufsberatung_verordnet_werden

Foto: Dr. Benjamin Senst nimmt im MVZ Zerbaum und Kollegen in Brandenburg an der Havel am Modellprojekt zum Sozialen Rezept teil. © MVZ Zerbaum und Kollegen

Weltweit fehlt es vielerorts an einer ausreichenden medizinischen Versorgung, insbesondere in abgelegenen Regionen. Im Projekt »PreCare« haben Forschende des Fraunhofer-Instituts für Schicht- und Oberflächentechnik IST und des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme ISE eine innovative Lösung entwickelt: eine mobile, modulare Gesundheitsplattform, die auf Geländewagen installiert werden kann. In Südafrika und Namibia ist das System bereits erfolgreich im Einsatz. Für diese wegweisende Entwicklung wurde das Projektteam mit dem Preis »Innovations for a Better Future« der Fraunhofer-Zukunftsstiftung ausgezeichnet.

In abgelegenen Regionen ist der Zugang zu medizinischer Versorgung häufig stark eingeschränkt – nicht nur wegen unzureichender Verkehrsinfrastruktur und fehlender Transportmittel, sondern auch aufgrund des gravierenden Personalmangels. In vielen afrikanischen Ländern betreut oft nur ein Arzt oder eine Ärztin rund 10.000 Menschen. Zum Vergleich: In Deutschland liegt die Ärztedichte bei durchschnittlich 44 pro 10.000 Einwohner. Um dieser Versorgungslücke zu begegnen, haben Forschende eine kompakte und widerstandsfähige Gesundheitsplattform entwickelt, die auf der Ladefläche geländegängiger Pick-ups installiert werden kann. Sie bietet auf kleinstem Raum die nötige Ausstattung für medizinische Untersuchungen – selbst auf schwierigen Sand- und Schotterwegen. „PreCare ermöglicht medizinische Versorgung für alle und überall“, fasst Frank Neumann, Teamleiter Photo- und elektrochemische Umwelttechnik am Fraunhofer IST und Projektkoordinator, zusammen.

Medizinische Grundausstattung trifft technologische Innovation

Die mobile Gesundheitsplattform ist mit einer autarken Energieversorgung ausgestattet: Elektrische Geräte wie Kühlsysteme für Medikamente, Impfstoffe und Blutproben werden über Photovoltaikmodule und Batteriespeicher betrieben. Zusätzlich ist eine Anlage zur Trinkwasseraufbereitung integriert. Eine spezielle Vorrichtung auf Basis diamantbeschichteter Elektroden ermöglicht die Herstellung von Desinfektionsmitteln direkt vor Ort – lediglich aus einer einfachen Natriumchlorid-Lösung. Für die digitale Kommunikation und Fernbehandlungen kann ein System zur Datenübertragung via Satelliten- oder Mobilfunknetz eingebunden werden. Die Ausstattung lässt sich bei Bedarf um diagnostische Geräte wie mobiles Röntgen, EKG oder Ultraschall erweitern.

Flexible Konstruktion für individuelle Bedürfnisse

„Unsere Lösung ist flexibel und modular. So können auch Menschen in technisch unterentwickelten Regionen am Fortschritt teilhaben“, erklärt Dr. Joachim Koschikowski, Gruppenleiter Wasseraufbereitung und Stofftrennung am Fraunhofer ISE. Darüber hinaus ist die mobile Gesundheitsplattform besonders wirtschaftlich, da sie auf handelsüblichen Pick-up-Fahrzeugen basiert. Ihr Betrieb erfordert lediglich eine Fahrerin oder einen Fahrer sowie eine medizinische Fachkraft, wodurch der Personal- und Ressourcenaufwand gering bleibt. Ricarda-Laura Sack, am Fraunhofer ISE während des Aufbaus des ersten Prototyps tätig und in Südafrika verantwortlich für Schulung und Fernwartung, erklärt: „Wichtig ist uns die einfache Bedienung und der geringe Wartungsaufwand. Ziel ist es, mit nur einer Schulung das Personal fit für den eigen-tändigen Betrieb zu machen – eine praktikable Lösung, selbst für Organisationen mit begrenztem Budget.“

Feste Verwurzelung durch lokales Netzwerk

Das Projekt basiert auf einer engen Kooperation mit zahlreichen Akteuren vor Ort. Der erste Prototyp wurde 2023 an eine NGO in Südafrika übergeben. Dank einer Förderung der Fraunhofer-Zukunftsstiftung konnte anschließend ein zweiter Prototyp entwickelt werden, der inzwischen von einer NGO in Namibia eingesetzt wird. Bereits in einem frühen Stadium wurden lokale Partner aus den Bereichen Gesundheitsvorsorge, Forschung, Systembau und Logistik in Subsahara-Afrika eingebunden. Herstellung, Vertrieb und Wartung liegen mittlerweile bei S Mile Solutions (Pty) Ltd, einem im Rahmen des Projekts gegründeten Unternehmen und dem ersten Fraunhofer-Spin-off in Südafrika. „Wir wollen Hightech langfristig und niederschwellig vor Ort verfügbar machen – in Afrika für Afrika“, betont Frank Neumann.

Enormes Potenzial für weitere Anwendungen

Um die Technologie weiterzuentwickeln und noch stärker in den Alltag der Menschen zu integrieren, setzt das Team weiter auf Kooperationen vor Ort. »Das System ist universell und bietet das Potenzial, weitere technische Geräte zu integrieren«, erläutert Dr. Simone Kondruweit-Reinema, Leiterin Marketing und Kommunikation am Fraunhofer IST und zuständig für das Kommunikations- und Marketingmanagement des Projekts. Auch die Anpassung an Bereiche wie die Katastrophenhilfe oder Tiermedizin in Wildreservaten ist denkbar. 

»Innovations for a Better Future« – Preis der Fraunhofer-Zukunftsstiftung

Im Jahr 2025 verlieh die Fraunhofer-Zukunftsstiftung erstmals den Preis »Innovations for a Better Future«. Ausgezeichnet wurde ein Fraunhofer-Team, das erfolgreich den Transfer einer Technologie umgesetzt und damit einen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung im Sinne der UN-Nachhaltigkeitsziele (SDGs) geleistet hat. Der mit 50.000 Euro dotierte Preis wird durch die Unterstützung engagierter Stiftender ermöglicht. Die projektgebundenen Mittel dienen der gezielten Weiterentwicklung der prämierten Initiative.


Zur Pressemitteilung: https://www.fraunhofer.de/de/presse/presseinformationen/2025/juni-2025/medizinische-versorgung-gesundheitsplattform-fuer-gelaendewagen.html

Foto: »PreCare« kann mit nur einem Fahrer oder einer Fahrerin und einer medizinischen Fachkraft betrieben werden. © Fraunhofer IST / Frank Neumann

Mit dem Projekt NAVIGATION unterstützt der Gemeinsame Bundesausschuss den Aufbau von Primärversorgungszentren in Deutschland. Ziel ist es, neue Versorgungsmodelle zu erproben, die eine gerechtere ambulante Gesundheitsversorgung ermöglichen. Pilotstandorte sind die Poliklinik in Hamburg-Veddel sowie eine Einrichtung in Berlin-Neukölln. Projektpartner sind die AOK Rheinland/Hamburg und die AOK Nordost.

„In den letzten Jahren ist die Zahl der Menschen, die nur schwer einen Zugang zur Gesundheitsversorgung finden, größer geworden. Das gilt besonders für die sozioökonomisch schlechter gestellten Stadtteile. Die Politik hat erkannt, dass eine bessere Steuerung dringend erforderlich ist. Das Projekt NAVIGATION setzt diese Erkenntnis bereits heute in konkretes Handeln um und ist damit richtungsweisend“, sagt Matthias Mohrmann, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der AOK Rheinland/Hamburg. „Wir wollen an den Standorten Hamburg-Veddel und Berlin-Neukölln zeigen, dass Primärversorgungszentren, in denen Versorgungsangebote gebündelt werden, eine Brücke hin zu mehr gesellschaftlicher Gerechtigkeit im Gesundheitswesen bauen können: ohne Barrieren und mit einem Schwerpunkt auf individueller Beratung der Patientinnen und Patienten.“ Dabei werde die hausärztliche Versorgung durch pflegerische, soziale und psychologische Leistungen ergänzt und trage damit den unterschiedlichen Bedürfnissen einer diversen Gesellschaft stärker Rechnung, so Mohrmann weiter.

Speziell ausgebildete Pflegefachkräfte steuern das Team an der Poliklinik Veddel in Hamburg

Im Zeitraum von April 2025 bis März 2027 werden 580 Patientinnen und Patienten an der Poliklinik Veddel in Hamburg sowie am Standort in Berlin-Neukölln einen neuartigen Versorgungspfad durchlaufen. Dabei wird ein sektorenübergreifendes Team aus Hausärztinnen und Hausärzten, Psychologinnen und Psychologen sowie Sozialarbeitenden die Versorgung übernehmen. Ein besonderes Merkmal des Projekts ist der Einsatz von speziell ausgebildeten Pflegefachkräften, den sogenannten Community Health Nurses, die die klinische Leitung und eine zentrale Steuerungsfunktion im Projekt übernehmen.

Das Team entwickelt gemeinsam eine individuell abgestimmte Versorgung, die auch soziale Faktoren in die Behandlung einbezieht. Die Community Health Nurse begleitet die Patientinnen und Patienten über den gesamten Versorgungsprozess hinweg. Sie fungiert als feste Ansprechperson und unterstützt regelmäßig in Gesprächen, telefonischen Check-ups sowie Hausbesuchen. Dabei hilft sie auch bei bürokratischen Hürden oder Sprachbarrieren, um eine umfassende Betreuung sicherzustellen. „Wir erreichen damit eine viel breitere Patientengruppe und auch diejenigen, deren Versorgung bislang nicht ausreichend sichergestellt ist“, erklärt Matthias Mohrmann.

Das Best-Practice-Modell wurde im Rahmen des Innovationsfondsprojekts „Nachhaltig versorgt im gemeindenahen Gesundheitszentrum – Gesundheit im Zentrum“ (NAVIGATION) entwickelt. Es baut auf den bisherigen Praxiserfahrungen der beiden Primärversorgungszentren Poliklinik Veddel in Hamburg und GeKo (Stadtteil-Gesundheits-Zentrum Neukölln) in Berlin auf, die zu den ersten ihrer Art in Deutschland gehören. Beide Einrichtungen leiten das Projekt NAVIGATION gemeinsam und bieten den innovativen Versorgungspfad in den kommenden zwei Jahren in ihren jeweiligen Häusern an.

Über das Projekt 

NAVIGATION ist ein Innovationsfondsprojekt des Gemeinsamen Bundesausschusses, das darauf abzielt, Primärversorgungszentren als neue wohnortnahe Versorgungsform in Deutschland zu etablieren. Das Projekt wird von einem siebenköpfigen Konsortium getragen, zu dem die AOK Rheinland/Hamburg, die AOK Nordost, die Charité – Universitätsmedizin Berlin, die Frankfurt University of Applied Sciences und die Hamburgische Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitsförderung e.V. gehören. Die Projektleitung liegt bei der Poliklinik Veddel in Hamburg und dem GeKo - Stadtteil-Gesundheits-Zentrum Neukölln in Berlin. Das Projekt läuft von August 2024 bis Oktober 2027. navigation-im-pvz.de


Zur Pressemitteilung: https://www.aok.de/pp/rh/pm/zugang-zur-gesundheitsversorgung-gerechter-gestalten/

Foto: Innovationsfondsprojekt NAVIGATION etabliert Primärversorgungszentren (c) AOK Bundesverband