Junge Mütter, die sich in schwierigen sozialen und finanziellen Lebenslagen befinden, stehen oft unter enormem Druck. Ohne ausreichende Unterstützung können psychosoziale Belastungen schnell zur Überforderung führen – mit gravierenden Folgen für Mutter und Kind. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass diese Belastungen das Risiko für Vernachlässigung, Kindesmisshandlung und psychische Probleme sowohl bei den Müttern als auch bei den Kindern erhöhen können. Vor diesem Hintergrund gewinnen präventive Programme, die Familien in belasteten Situationen frühzeitig unterstützen, zunehmend an Bedeutung.

Eine neue Studie, die in der renommierten Fachzeitschrift „JAMA Pediatrics“ veröffentlicht wurde, zeigt: Hausbesuchsprogramme können sowohl die Gesundheit von Kindern als auch das Wohlbefinden von Müttern langfristig verbessern. Besonders deutliche Effekte wurden erzielt, wenn die Betreuung ausschließlich durch Hebammen erfolgte.

Die größte randomisierte Studie in Deutschland zu diesem Thema

Die Studie „Pro-Kind Follow-Up“ ist die größte randomisierte kontrollierte Untersuchung in Deutschland, die die langfristigen Effekte eines Hausbesuchsprogramms für benachteiligte Familien evaluiert hat. Zwischen 2006 und 2009 wurden 755 erstgebärende Frauen mit geringem Einkommen und psychosozialen Belastungen in drei Gruppen aufgeteilt: Zwei Interventionsgruppen erhielten regelmäßige Hausbesuche durch Hebammen oder durch ein Tandem-Team aus Hebammen und Sozialarbeiterinnen. Die Kontrollgruppe hatte Zugriff auf die üblichen sozialstaatlichen Leistungen. Ziel war es, die Wirksamkeit der unterschiedlichen Modelle zu vergleichen.

Nach sieben Jahren wurden die teilnehmenden Familien erneut untersucht. Die Ergebnisse sind deutlich: Kinder aus Familien, die von Hebammen begleitet wurden, zeigten seltener Verhaltensprobleme wie Angststörungen oder depressive Symptome. Auch die Häufigkeit von Kindesmisshandlung und Vernachlässigung war geringer. Gleichzeitig berichteten Mütter dieser Gruppe von weniger Erziehungsstress und einer verbesserten mentalen Gesundheit.

„Langfristige Beziehungen sind der Schlüssel“

„Unsere Ergebnisse zeigen, dass frühe Interventionen nicht nur kurzfristig helfen, sondern auch Jahre nach Abschluss der Programme nachhaltige positive Effekte haben“, erklärt PD Dr. Tilman Brand, Leiter der Fachgruppe Sozialepidemiologie am BIPS. Besonders interessant: Die Interventionsgruppe, die ausschließlich von Hebammen betreut wurde, schnitt besser ab als die Gruppe, in der ein Tandem-Team aus Hebammen und Sozialarbeiterinnen zum Einsatz kam. „Wir hätten erwartet, dass die Kombination beider Berufsgruppen einen zusätzlichen Mehrwert bietet. Doch offenbar ist die langjährige Beziehung zu einer einzelnen Bezugsperson entscheidend“, so Brand weiter.

Eine Reduktion von 13 Prozentpunkten bei Verhaltensproblemen

Die Studie konnte ungewöhnlich deutliche Effekte aufzeigen: Verglichen mit der Gruppe ohne spezielle Intervention sank in der Gruppe mit Familienbegleitung die Rate von Verhaltensproblemen um 13 Prozentpunkte, depressive Symptome der Mütter wurden um 7 Prozentpunkte gesenkt – was einer relativen Risikoreduktion von etwa 50 Prozent entspricht. „Diese Ergebnisse unterstreichen, wie wichtig es ist, Hebammen frühzeitig in die Begleitung von benachteiligten Familien einzubinden“, betont Brand.

Ein Modell für die Zukunft?

Trotz der positiven Ergebnisse wird das Hausbesuchsprogramm aktuell nur in wenigen Regionen umgesetzt. Bremen und Braunschweig haben das Modell übernommen, in anderen Ländern wurde das Programm bisher nicht eingeführt. Dabei zeigen die Studienautoren klar: „Ein bundesweites Programm könnte dazu beitragen, soziale Ungleichheit nachhaltig abzubauen und die Gesundheit von Kindern und Eltern zu verbessern“, betont Brand.

Das Paper, das von einem Team aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Deutschland und Großbritannien geschrieben wurde, liefert wichtige Impulse für die Gesundheits- und Sozialpolitik. Das Team hofft, dass die Ergebnisse dazu beitragen, frühe Unterstützungsangebote für Familien in schwierigen Lebenslagen in Deutschland auszubauen und langfristig zu sichern. 

Die Veröffentlichung ist als Zusammenarbeit zwischen der Ernst-Abbe-Hochschule Jena, der Technische Hochschule Nürnberg, dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und dem University College London und dem Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie - BIPS entstanden. Es wurde gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung. 

Das BIPS – Gesundheitsforschung im Dienste des Menschen

Die Bevölkerung steht im Zentrum unserer Forschung. Als epidemiologisches Forschungsinstitut sehen wir unsere Aufgabe darin, Ursachen für Gesundheitsstörungen zu erkennen und neue Konzepte zur Vorbeugung von Krankheiten zu entwickeln. Unsere Forschung liefert Grundlagen für gesellschaftliche Entscheidungen. Sie informiert die Bevölkerung über Gesundheitsrisiken und trägt zu einer gesunden Lebensumwelt bei. 

Das BIPS ist Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft, zu der 96 selbstständige Forschungseinrichtungen gehören. Die Ausrichtung der Leibniz-Institute reicht von den Natur-, Ingenieur- und Umweltwissenschaften über die Wirtschafts-, Raum- und Sozialwissenschaften bis zu den Geisteswissenschaften. Leibniz-Institute widmen sich gesellschaftlich, ökonomisch und ökologisch relevanten Fragen. Aufgrund ihrer gesamtstaatlichen Bedeutung fördern Bund und Länder die Institute der Leibniz-Gemeinschaft gemeinsam. Die Leibniz-Institute beschäftigen rund 20.000 Personen, darunter 10.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Der Gesamtetat der Institute liegt bei 2 Milliarden Euro.

Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Dr. phil. Tilman Brand
Telefon:
+49 (0)421 218-56-917
E-Mail:
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Originalpublikation:
Schepan ML, Sandner M, Conti G, Kliem S, Brand T. Maternal and child health following 2 home visiting interventions vs. control: Five-year follow-up of a randomized clinical trial. JAMA Pediatrics. 2025


Zur Pressemitteilung: https://www.bips-institut.de/medien/presse/einzelansicht/langfristige-verbesserung-der-kindes-und-muttergesundheit-durch-hausbesuchsprogramme.html

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In der Gesundheitsversorgung der Zukunft sollen Prävention und Gesundheitsförderung eine stärkere Rolle spielen als bisher. Es mangelt allerdings noch an praktikablen Konzepten, wie dieses gesundheitspolitische Ziel im medizinischen Alltag erreicht werden kann. Hier setzt die neue Studie „Positive Health Innovation“ unter der Leitung des Instituts für Allgemeinmedizin und Ambulante Gesundheitsversorgung (iamag) der Universität Witten/Herdecke (UW/H) an. 

Sie basiert auf dem Beratungskonzept „Positive Health“ der niederländischen Allgemeinärztin Machteld Huber; dieses bietet einen vielversprechenden Ansatz zur Gesundheitsförderung in der hausärztlichen Praxis und anderen medizinischen Einrichtungen und hat in den Niederlanden zu einer erfolgreichen patient:innenorientierten Neuausrichtung des Gesundheitswesens beigetragen. Wie das Konzept auf hausärztliche Praxen in Deutschland übertragen werden kann, untersucht die Universität Witten/Herdecke nun im Verbund mit den Universitäten Duisburg-Essen, Heidelberg, Düsseldorf, Bochum und Köln.

Erprobung von Positive Health in hausärztlichen Praxen 

In drei regionalen Gesundheitsnetzen in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz soll Positive Health mit 15 hausärztlichen Praxen erprobt werden. „Positive Health unterstützt uns dabei, die biopsychosozialen Dimensionen von Gesundheit im Dialog mit den Patientinnen und Patienten besser zu adressieren und gemeinsam passende therapeutische Ziele zu erarbeiten“, betont Prof. Dr. Achim Mortsiefer, Leiter des Projekts und des iamag der UW/H.

Im Zentrum von Positive Health steht ein grafisches Erhebungsinstrument, auf dem eine Person die eigene Gesundheit in sechs Dimensionen wie z. B. mentales Wohlgefühl, Körper und Lebensqualität zwischen 0 und 10 bewerten soll (siehe Abbildung). Das resultierende Spinnennetz-Diagramm ist der Ausgangspunkt für eine moderierte Selbstreflexion; es soll gesundheitsfördernde Eigenaktivitäten unterstützen (Empowerment) und eine effektivere medizinische und psychosoziale Unterstützung ermöglichen. 

„Als Hausärztin habe ich überraschende und wertvolle Erfahrungen mit dem Einsatz von Positive Health in meiner Praxis gemacht – sowohl in Einzelgesprächen, in meinem Team mit Kolleginnen und Kollegen als auch in der gemeinsamen Anwendung in Zusammenarbeit mit anderen Fachkräften in der Nachbarschaft. Ich freue mich sehr, dass sich nun auch Kolleginnen und Kollegen in Deutschland für die Idee begeistern und ein überregionales Projekt zustande gekommen ist“, berichtet Karolien van den Brekel von „Positive Health International“ mit Sitz in den Niederlanden.

Das Studiendesign sieht drei Phasen vor: Zuerst wird das Konzepts für Gesundheitsnetze unter Einbeziehung der relevanten Stakeholder sowie unter Berücksichtigung der regionalen Gegebenheiten weiterentwickelt. Die anschließende praktische Erprobungsphase erfolgt in den hausärztlichen Praxen. Abschließend werden die Ergebnisse ausgewertet und mithilfe aller Projektbeteiligten aufbereitet, um die Intervention zukünftig in der Regelversorgung anwendbar zu machen. 

Interdisziplinäre Zusammenarbeit im Projekt

Die Konsortialführung des Projekts hat das Institut für Allgemeinmedizin und Ambulante Gesundheitsversorgung (iamag) der Universität Witten/Herdecke (Prof. Dr. Achim Mortsiefer) inne. Die beteiligten Konsortialpartner sind das Institut für Allgemeinmedizin am Universitätsklinikum Duisburg-Essen (Prof. Dr. Jürgen in der Schmitten), die Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung am Universitätsklinikum Heidelberg (Prof. Dr. Attila Altiner/Dr. Simon Schwill, MME), das Institut für Allgemeinmedizin, Centre for Health and Society (ifam/chs) am Universitätsklinikum Düsseldorf (Prof. Dr. Stefan Wilm), die Abteilung für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie der Ruhr-Universität Bochum (Prof. Dr. Nina Timmesfeld) sowie das Institut für Gesundheitsökonomie und Klinische Epidemiologie der Universität zu Köln (Prof. Dr. Stephanie Stock). 

Das Projekt wird vom Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) mit einer Summe von 2,5 Millionen Euro über drei Jahre gefördert und erfolgt in Kooperation mit dem niederländischen Institute for Positive Health (iPH) und dem internationaler Trainings- und Implementierungspartner „Positive Health International“ (PHi), sowie mit Positive Gesundheit Deutschland e. V. und dem Dachverband Salutogenese e. V.


Zur Pressemitteilung: https://www.uni-wh.de/forschungsprojekt-positive-health-neuer-dialog-zur-gesundheitsfoerderung-in-der-hausaerztlichen-praxis

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Nicht erst mit dem Bruch der Koalition steht Deutschland vor vielfältigen Herausforderungen, die bei einem Großteil der Bevölkerung zu starker Verunsicherung führen. Klimawandel und Umweltkatastrophen, globale Krisenherde und Kriege sowie eine zunehmende gesellschaftliche Spaltung belasten viele Menschen in Deutschland. Noch präsenter im Alltag sind Themen wie Inflation, Armut, Migration, soziale Ungleichheit oder Belastungssituationen am Arbeitsplatz. Krisen werden zum Dauerzustand. Gleichzeitig scheinen politische Debatten und Entscheidungsprozesse vielen weit weg und vermehrt zu einer Politik- und Demokratieverdrossenheit zu führen.

Der Wunsch nach schnellen, einfachen Lösungen ist stark, bringt Einzelne sowie Gemeinschaften aus dem Gleichgewicht. Es ist Zeit, die Menschen gut auszustatten für den Umgang mit multiplen Krisen und steigenden Anforderungen. Psychische Gesundheit und Resilienz der gesamten Bevölkerung sind es wert, als grundlegende Ressourcen verstanden und gefördert zu werden.

Für eine Stärkung der psychischen Gesundheit, für mehr Resilienz in der Gesellschaft und für das Gemeinwohl nimmt der BDP in seiner Funktion als Berufsverband seine berufspolitische Verantwortung wahr, begleitet in vielen Bereichen die unterschiedlichen parlamentarischen Prozesse und appelliert in Richtung Politik, wichtige Reformvorhaben anzustoßen oder weiter im Blick zu behalten. Die Positionspapiere des BDP zur Wahl haben ein breites Themenspektrum im Blick.

Ein besonderes Augenmerk brauchen die jüngsten Mitglieder unserer Gesellschaft. Viele erleben Diskriminierung, haben psychische Auffälligkeiten und machen sich zunehmende Sorgen um Krisen wie Kriege, Terrorismus, wirtschaftliche Krisen und den Klimawandel. Folgen der Pandemie wirken bei jungen Menschen besonders stark nach. Um dennoch Mut, Zuversicht und persönliche Perspektiven entwickeln zu können, brauchen Kinder und Jugendliche verlässliche und niederschwellige Unterstützungsangebote. An ihnen darf trotz knapper Ressourcen nicht gespart werden. Psychologische Expertise im Bildungswesen ist hier gefragt.

Verbesserungspotenzial sieht der BDP beim Arbeitsschutz, in dem die psychischen Belastungen und Beanspruchungen eine zunehmend große Rolle spielen. Psycholog*innen sind noch immer nicht im Arbeitssicherheitsgesetz verankert, das muss sich ändern. Ebenso wichtig und dringlich ist die nachhaltige psychotherapeutische Versorgung der Bevölkerung sowie in diesem Zusammenhang die Regelung der Finanzierung der psychotherapeutischen Weiterbildung.

Für die erfolgreiche Umsetzung von Maßnahmen für mehr Klimaschutz sowie der Unterstützung der Bevölkerung bei der Bewältigung der Klimakrise braucht es ebenso die Einbeziehung psychologischer Strategien und Konzepte, wie für die kompetente Steuerung und Analyse von Chancen und Risiken bei der fortschreitenden Digitalisierung im Arbeitsleben, in der Bildung und im Gesundheitssektor.

Last but not least bedarf es im Bereich Verbraucherschutz klarer gesetzlicher Regelungen für mehr Transparenz und Sicherheit im Umgang mit dem vielfältigen und breitgefächerten Angebot psychologischer Leistungen. Ein Psycholog*innengesetz soll hier für Klarheit sorgen.

Mit Blick auf die Bundestagswahlen im Februar 2025 hat der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) ein Paket mit Positionspapieren zu allen zentralen Anliegen und Vorschlägen sowie Impulsen zu wichtigen Themen geschnürt und an Parteien, Bundestagsabgeordnete sowie entscheidende Gremien und Ausschüsse gesandt. Eine stabile und gesunde Psyche ist Grundlage für gesellschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten und den Zusammenhalt, dafür braucht es effektive und nachhaltige Gesetze. Als Verband setzen wir uns auch 2025 dafür ein. Denn es gilt: Starke Psyche – starke Gesellschaft!


Zur Pressemitteilung: https://www.bdp-verband.de/presse/pressemitteilungen/detailansicht/pressemitteilung-zu-bdp-positionspapieren-zur-bundestagswahl-2025-starke-psyche-starke-gesellschaft-zentrale-aspekte-der-psychischen-gesundheit-im-blick-behalten

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