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Hadil Lababidi

Ruh und Nafs. Vom Lebenshauch zur Selbstheit.
Grundfragen der Bioethik im Islam am Beispiel der Sonderernährung am Lebensende bei Demenz

(Frankfurter Schriften zum Islam – Islam im Kontext, hrsg. von Bekim Agai) EB-Verlag Dr. Brandt, Berlin 2023, 253 Seiten, 39,00 €, ISBN 978-3-86893-448-9

Vorliegende Studie basiert auf der 2023 von der Arbeitsgemeinschaft Vorderer Orient mit dem Dissertationspreis ausgezeichneten Arbeit der Autorin von 2022. Lababidi widmet sich einem bisher wenig erforschten Bereich in systematisch-konstruktiver Weise, in dem Medizin-, Rechts- und Religionsfragen zusammenkommen und der Jeden betreffen kann: der Demenz-Erkrankung im islamischen Kontext. Die Arbeit besticht durch eine klare Gliederung in drei Hauptteile: 1. Darstellung von Demenz aus philosophischer Sicht mit der Idee der Person; 2. Demenz und ihre Einordnung im Licht von Koran, Überlieferung und Theologie; 3. islamrechtliche Debatten und Dilemmata im Islam am Beispiel der Sonderernährung am Lebensende bei Demenz, ergänzt durch ein hilfreiches Glossar. In der Einleitung wird auf wenige Arbeiten zur Thematik verwiesen, vor allem auf „Majnun. The Madman in Medieval Islamic Society“ von Michael W. Dols von 1992. Die Meinung des Bioethikers Abul Fadl Mohsin Ebrahim (21), dass ärztliches Fachpersonal Beihilfe zum – im Islam eine Sünde darstellenden – freiwilligen Suizid leiste, unterstreicht die Sensibilität der behandelten Thematik.

Im ersten Kapitel wird der Forschungsstand aus medizinischer Sicht dargestellt und die Begrifflichkeit erläutert – Demenz als „de-mens“ (Schwinden/Rückgang des Geistes/Verstandes) als Grundbedeutung für intellektuellen Verfall im hohen Alter. 

Kapitel 2 betrachtet Demenz aus der Perspektive der religiösen Quellen (Koran, Hadith, Theologie). Das widersprüchliche Verhältnis zum Altern bewegt sich vorrangig zwischen Respekterweisung und Verachtung bzw. Verächtlichmachung dieses Lebensabschnittes, der als das „verächtliche“ Alter oder „erniedrigender Zustand aufgrund zutiefst eingeschränkter geistiger Fähigkeiten im hohen Alter“ (69) bezeichnet wird: Einerseits wird der Zuwachs an Lebensweisheit gewürdigt, andererseits wird der körperliche Zerfall mit Bezug auf die griechisch-antike Säftelehre (Humoralpathologie des Galen) erklärt. Ibn Sina, Mediziner, beschreibt dies als „Zustand zwischen Gesundheit und Krankheit“ (61). Interessant sind die Ausführungen zum „Elterngebot im Islam“, da hier die völlige Unterwerfung unter die Stammessolidarität überwunden wird (62ff.); die Befolgung der Lehre des Korans über den Anforderungen familiärer Solidarität steht im Vordergrund. Zentral ist die Frage nach der Verantwortlichkeit des Menschen in eingeschränktem Zustand des Verstandes, dem „(…)Merkmal, an welches das islamische Recht die Verantwortlichkeit vor dem Gesetz knüpft“ (137). Islamische Juristen berücksichtigen körperliche und geistige Behinderungen, die dazu führen, göttliche Bestimmungen nicht umsetzen zu können. Mit der Maxime „Jeder Mensch ist rechtsfähig, jedoch nicht jeder handlungsfähig“ regelt das islamische Recht die Rechtswirksamkeit des Handelns einer Person, wobei die Vormundschaft für stellvertretende Entscheidungen im Sinne des Erhalts sozialer Harmonie der Gesellschaft zentral ist. Letzteres gilt für Heiratsgeschäfte wie für den Umgang mit „Verrückten“ (mağnūn) und im Verstand Beeinträchtigten bzw. „Geistesschwachen“ (ma´tūh; 138ff., hier 141) und erscheint nicht so verschieden von hiesigen Verhältnissen, wobei stärkere Säkularisierung religionspolitische Ansprüche und Rechte hier inzwischen verringert hat. Die arabische Sprache in ihrer Deutlichkeit mag schockieren, ist sie doch unromantisch präzise und noch nicht so sensibel wie diejenige hierzulande, wo man inzwischen von „neuro-kognitiven Störungen“ spricht, einem Sammelbegriff, dem die Genauigkeit fehlt. 

Die Studie hat trotz anspruchsvoller Thematik keinen übertriebenen Umfang. Lababidi führt die Stränge eines komplexen Geflechts aus Koran, Islamischer Rechtsprechung, deutschem säkularen Recht, Medizinethik und Handlungspraxis zu einem konkreten Ergebnis zusammen, das man als interkulturell orientierte religionswissenschaftliche Arbeit bezeichnen kann, mit religiös-theologischen Unterstrom. Die Diskussion über die Sonderernährung am Lebensende rückt die Frage in den Hintergrund, weshalb der Mensch überhaupt medizinische Entscheidungen treffen darf (220). Die Verfügungsgewalt Gottes für menschliche Stellvertretung ist auf Lebenserhalt bei aussichtsreichen medizinischen Maßnahmen ausgerichtet; diese entfällt in der Sterbephase. Die Studie wirft die Frage auf, inwieweit man sich auf die Thematik hierzulande in medizinischen Bereichen einlassen kann, wo personelle Kapazitäten längst an Grenzen geraten, und ob dadurch evtl. staatliche Neutralität in Frage gestellt wird, denn Demenz ist eine Erkrankung, kein Gottesurteil. Die Abhandlung ist zur kritischen Fortbildung für medizinisches Personal geeignet.

Eine Rezension von Dr. phil. A. Harwazinski
Islam- und Religionswissenschaftlerin

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