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Peter Henningsen

Die neue Psychosomatik der Körperbeschwerden
Schmerzen, Schwindel, Erschöpfung & Co. besser verstehen und behandeln

Klett Cotta, Stuttgart, 1. Auflage 2025, 154 Seiten, 25,00 €, ISBN 978-3-608-98861-1

Circa 25 Prozent all derer, die einen Hausarzt und dann später auch oft Fachärzte und Kliniken aufsuchen, weisen „funktionelle“ Störungen auf. Das heißt, sie leiden unter belastenden, langanhaltenden und den Alltag und die Lebensqualität oft stark einschränkenden Körperbeschwerden, ohne dass auch bei sorgfältiger Untersuchung eine eindeutige organische Ursache gefunden werden kann. Diese Patienten werden in aller Regel als „schwierig“, wenn nicht gar als „undankbar“ bezeichnet. Dabei sind die Probleme in der Diagnostik und der Therapie schon lange bekannt, dennoch sind die Anstrengungen in der Versorgung und der Forschung insgesamt nicht angemessen – so Peter Henningsen, Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin am Klinikum rechts der Isar der TU München.

Den Anlass für dieses Buch habe »Long Covid« mit den Symptomen der Erschöpfbarkeit, Luftnot und anderen Beschwerden gegeben. Im Untertitel des Buches benannt, später aber kaum ausgeführt, werden zudem Schmerzen, Schwindel und Erschöpfung. 

Nach einem ausführlicheren dreigeteilten Einstieg ins Thema listet Henningsen zunächst die Beschwerden und ihre Häufigkeit auf, nennt Risikofaktoren und skizziert Therapieansätze. Dazu holt er weit aus, um eine Basis für ein umfassenderes und tieferes Verständnis der funktionellen Störungen zu legen. Die im Untertitel angeführten Symptome wurden in drei Fallbeispielen aufgenommen. Er stellt klar, dass »funktionell« nicht bedeutet, dass die Beschwerden »nicht-organisch« seien. „Auch funktionelle Körperbeschwerden haben eine organische Grundlage, aber die besteht definitionsgemäß nicht in einer nachweisbaren strukturellen Pathologie, also krankhaften Veränderungen von Organen oder Organsystemen des Körpers, sondern in einem veränderten Zusammenspiel des Nerven- und anderer Systeme des Körpers, das zu den belastenden Körperwahr­nehmungen führt.“ Er fragt, welche Faktoren zum Entstehen funktioneller Körperbeschwerden beitragen können, um dann sowohl die individuelle Vulnerabilität als auch objektive und subjektive Auslösefaktoren zu benennen.

Als ein grundlegendes Problem beschreibt er die „Spaltung, die zwei große medizinisch-thera­peutische Bereiche stärker voneinander zu trennen scheint als ehemals die Berliner Mauer zwei Teile eines Landes: Entweder hat man eine körperliche oder eine psychische Krankheit, tertium non datur. …. Die besondere Schwierigkeit liegt nun auch hier darin, dass die Medizin als System kein Wahrnehmungs­organ für die Unzulänglichkeit dieser Spaltung und damit in systematischer Hinsicht kein Problembewusstsein hat.“

Am Ende entwickelt Henningsen aufgrund neuerer Erkenntnisse zur Funktionsweise unseres Gehirns das Modell eines „verkörperten Selbst“, das die Aufteilung von Körper und Psyche überwinden soll. Funktionelle Körperbeschwerden versteht er daraus abgeleitet als Störungen des verkörperten Selbst. Schlussendlich lotet er auch aus, was dies für die Akteure im Gesundheitswesen (Behandler*innen und Betroffene) bedeutet sowohl hinsichtlich der Diagnostik wie dem therapeutischen Umgang. 

Leser*innen erfahren ggf. Neues oder auch neu Gedachtes über die Funktionsweise unseres Gehirns.

So mache das Gehirn „als Teil eines ständig mit seiner Umwelt interagierenden Organismus“, aktiv Voraussetzungen darüber, was die Wahrnehmung sein könnte, und vergleiche diese Vorhersagen mit den tatsächlichen Sinnesreizen aus Umwelt und Körper. Entspricht die Vorhersage der Erwartung, muss dies nicht aufwendig weiterverarbeitet werden. Kommt es aber zu einem „Vorhersageirrtum“, wird dies bis in höhere Hirnregionen verarbeitet, bewusst wahrgenommen und die Vorhersage für weitere Wahrnehmungen entsprechend angepasst. In diesem Modell wird Wahrnehmung also nicht primär als „Bottom up“ von den Sinnesrezeptoren her definiert, sondern sie wird gewissermaßen aktiv und schlussbildend generiert im Vergleich von Vorhersage und Sinnesreiz, darum spricht man auch von einem generativen Modell der Wahrnehmung (S. 78). Explizit sind bei diesen Prozessen interaktionelle Erfahrungen einbezogen.

Es ist kein Buch primär für Betroffene, aber sicher für LeserInnen des Doktor Mabuse. 

Eine Rezension von Dr. med. Helmut Schaaf 
Ltd. Oberarzt, Psychotherapie 

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