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Anna Sperk

Neben der Wirklichkeit

Roman, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale), 1. Edition 2018, 272 Seiten, 16,00 €, ISBN 978-3-96311-014-6

Julia ist schizophren, sie hat eine zweieinhalb Jahre alte Tochter, ist alleinerziehend und kämpft sich trotz ihrer Krankheit durchs Leben. Der Roman beginnt damit, dass Julia sich in der Psychiatrie befindet. Ihr Kind musste sie bei ihren Eltern zurücklassen. Der Vater des Kindes ist Choleriker und chaotischer Journalist, unfähig ihre Tochter ohne bleibende Schäden zu erziehen. Nach wenigen Seiten folgt eine Wendung, die Eltern von Julia haben das Jugendamt informiert, sie haben wenig Vertrauen in ihre Tochter, trauen ihr die Erziehung des eigenen Kindes nicht mehr zu. Julia wird plötzlich mit der Tatsache konfrontiert ihr Sorgerecht zu verlieren, das Kind soll dem Vater zugesprochen werden.

Anna Sperk beschreibt den Kampf der Protagonistin gegen Intoleranz, Unwissenheit, einem mangelhaft, bürokratischem System, das für psychisch Erkrankte weder Verständnis noch Platz kennt. Die Protagonistin ist Künstlerin, eine kluge, stark reflektierte Frau, die im Laufe des Romans, durch stringente Rhetorik ihr Kind zurückgewinnen wird.

Es folgt ein zweiter Teil des Romans. Julia, die ihr Kind zurückgewonnen hat, sucht nach einer regelmäßigen finanziellen Quelle und findet Arbeit in einer Flüchtlingsstation der Wohlfahrt. Sie wird Beraterin von einwandernden Ausländern, ist nicht nur hoch engagiert, sondern arbeitet effektiv und einfallsreich. Ihre Stelle befindet sich für ein halbes Jahr auf Probezeit, schon nach kurzer Zeit stößt sie an die Grenzen des kollegialen Systems und muss erfahren, dass weder ihre Ideen, noch ihre kreativ, künstlerische Persönlichkeit erwünscht sind.

Bei alldem versteckt sie ihre Erkrankung, ist sich sicher auf ihrer Arbeit hierfür nur Ablehnung und Abscheu zu ernten. Zu schwer wiegen ihre bisherigen Erfahrungen und sie wird damit Recht behalten, denn als ein Mitarbeiter durch Zufall ihre Narbe am Handgelenk bemerkt, gerät die Geschichte weiter ins Rollen und droht in einem Drama zu enden.

Julia sucht nach einem Ausweg, versteckt weiterhin ihre Schizophrenie, doch die Intrigen in der Belegschaft sind schon längst in Gang gesetzt und sie ist der Intoleranz und dem fehlenden Verständnis von psychisch Erkrankten hilflos ausgeliefert. Am Ende von ihr ein Versuch der Korrektur, indem sie einem Mitarbeiter Vertrauen schenkt. Wieder mit einer stringenten Rhetorik, legt sie diesem ihre Sicht der Dinge dar, versucht die psychisch Erkrankten für ihn in die Gesellschaft einzuordnen. Doch wieder erlebt sie nur Unverständnis und Misstrauen. Den Kampf am Ende verloren, wird sie in der Probezeit ohne Angaben von Gründen gekündigt.

Anna Sperk schreibt im unprätentiösen Ton, selten gibt es eine detaillierte Ausführung von Gefühlen. Damit erreicht sie beim Leser atemloses Erstaunen, die kühle Rhetorik der Protagonistin, ihre Sachlichkeit, erzeugen beim Lesen Beklemmung und Ratlosigkeit. Ratlosigkeit gegenüber einem unzureichenden System in der Gesellschaft, einer fehlenden Integration von psychisch Kranken, einer Stigmatisierung bis hin zur Verachtung. Frau Sperk prangert so gekonnt eine fehlende Toleranz und Inklusion psychisch Erkrankter in einem angeblich aufgeklärtem Deutschland an.

Sie schafft mit Julia Glückauf eine Figur, die sich versucht mit Sachlichkeit durchs Leben zu kämpfen, es bei dem Kampf um ihre Tochter schafft und dann auf dem Arbeitsmarkt scheitert.

Die Autorin hat mich beeindruckt, in ihrem bescheidenen Stil, erzeugte sie in mir ein Panoptikum sich wiederstreitender Gefühle, Gedanken, Thesen und ein weiteres Nachdenken über die Rückständigkeit unseres gesellschaftlichen Systems, das angeblich Werte besitzt, diese Werte jedoch bei der Integration von psychisch Erkrankten halt machen und ihnen einem Riegel vorschieben.

Ich selbst bin Betroffene einer schweren psychischen Erkrankung und habe die Grenzen der Akzeptanz unserer Gesellschaft in den letzten 20 Jahren bitter erfahren müssen. Aus diesem Grund bin ich Frau Sperk dankbar für dieses Buch, welches zum einem den Leser aufklärt und zum anderen die gesellschaftliche Sicht auf das Problem einordnet und gerade rückt. Ich wünsche mir mehr solcher Bücher und eine Gesellschaft, die aufwacht und nicht nur versucht, körperlich Behinderte zu inkludieren, sondern auch versucht die Menschen mit einer unsichtbaren Behinderung wahrzunehmen, um Lösungsansätze für deren Integration zu schaffen.

Eine Rezension von Doreen Wolf

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