Pflegediagnosen |
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Unter Diagnose wird allgemein die Erkennung oder Feststellung verstanden. In der Medizin handelt es sich dabei um eine Krankheit oder Zustände, die von einer Norm abweichen. Das Stellen einer Diagnose geht in der Regel damit einher, dass derjenige, bei dem eine Diagnose gestellt wurde, einer bestimmte Klassifikation unterworfen wird. Sehr eindruckvoll ist das in dem Roman "Zu viel Zorn, zu viele Tränen" von Paul und Janet Gotkin dargestellt, wo die junge Frau bei der Aufnahme in einer psychiatrischen Klinik gefragt wird, ob sie schon eine Diagnose habe. Die Fragerin fährt fort: "Wenn du eine Diagnose hast, bist du wer.
Die Diagnose im medizinischen Bereich ist nicht nur die unabdingbare Voraussetzung für therapeutisches Handeln. Aus ihr resultieren mehr oder weniger viele Maßnahmen (ergänzende Diagnostik, Therapien), die wissenschaftlich überprüft und zum Standard wurden. Wer eine Diagnose stellt, der bestimmt, was weiter geschieht.
Pflegerisches Handeln ist - zumindest in Deutschland, gemessen an den Inhalten der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung - sehr stark bezogen auf die Bedingungen und Arbeitsabläufe der Kliniken, wo auch die in den Beruf hineinwachsenden Pflegenden den entscheidenden Teil ihrer beruflichen Sozialisation erfahren. Pflegerisches Handeln war so schon sehr lange an medizinische Diagnosen und entsprechende Einteilungssysteme angelehnt. Daran hat auch alles Beschwören der Eigenständigkeit pflegerischen Handelns nicht wirklich etwas geändert, was sehr schön an den Anteilen der einschlägigen Lehrbücher deutlich wird, die der "Pflege bei Erkrankungen des …" gewidmet sind - bei Thiemes Pflege 430 von 1100 Seiten, bei Pflege heute 750 von 1450 Seiten. In dem Maße, in dem die Arbeitsabläufe in den Kliniken immer weiter verdichtet werden, wird die Orientierung an dem Klassifikationssystem der das Geschehen dominierenden Medizin eher zu- denn abnehmen.
Gerade aber da, wo Verweilzeiten immer kürzer werden, bleiben häufig pflegerische Probleme bestehen, an deren Lösung Ärzte meist nur noch partiell beteiligt sind. Im außerklinischen Bereich, der mit der Einführung der DRGs in Deutschland eine nicht unwesentliche Änderung erfahren hat und vermutlich noch weitere Änderungen erfahren wird, werden an die Pflegenden sehr hohe Anforderungen gestellt. Pflegerische Arbeit kann und muss hier losgelöst von den in der Klinik funktionierenden Ordnungssystemen organisiert werden; sie hat hier die Chance, selbstständig zu werden.
Hier wird es darauf ankommen, dass Pflegende Ordnungsschemata entwerfen, aus denen bestimmte in ihrer Effektivität überprüfte Handlungen abgeleitet werden können - es sind Pflegediagnosen zu stellen.
Die Entwicklung von Pflegediagnosesystemen ist in anderen Ländern, in denen die Pflege infolge der Strukturierung des Gesundheitsversorgungssystems schon lande oder immer einen eigenständigen Handlungsbereich hatte, schon recht weit entwickelt - bereits in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts begann in den USA die Arbeit an der Systematisierung von Pflegediagnosen. So ist es sehr zu begrüßen, dass die Einführung in die theoretischen Grundlagen der Arbeit an und mit Pflegediagnosen der amerikanischen Pflegewissenschaftlerin Marjory Gordon jetzt, betreut und redigiert von Sabine Bartholomeyczik, in deutscher Sprache vorliegt.
Im ersten Kapitel wird die Entwicklung der Arbeit mit Pflegediagnosen nachgezeichnet. Das zweite Kapitel ist der begrifflichen Definition gewidmet; es wird deutlich gemacht, dass eine Pflegediagnose sowohl Kategorie als auch Prozess ist. Gegenstand des dritten Kapitels ist, wie Pflegediagnosen mit dem diagnostischen Bemühen der anderen Gesundheitsberufe zusammengebracht werden können; in diesem Kapitel muss bei der Lektüre unbedingt der strukturell ganz andere Erfahrungshorizont der Autorin bedacht werden. Im vierten Kapitel wird der Bezugsrahmen bedacht, wozu ganz entscheidend auch die ethische Verantwortung derjenigen gehört, die Daten sammelt. Im fünften Kapitel werden elf funktionale Verhaltensmuster (Wahrnehmung und Umgang mit der eigenen Gesundheit, Ernährung und Stoffwechsel, Ausscheidung, Aktivität und Bewegung, Schlaf und Ruhe, Kognition und Perzeption; Selbstwahrnehmung und Selbstbild, Rolle und Beziehung, Sexualität und Reproduktion, Bewältigungsverhalten und Stresstoleranz, Werte und Überzeugungen) als Grundlage der Bewertung der Gesundheitssituation des Einzelnen, der Familie und der Gemeinde entfaltet. Im sechsten Kapitel werden zu diesen Bereichen dysfunktionale Verhaltensmuster aufgezeigt. Im siebten Kapitel wird die Sammlung der Daten beschrieben und im achten, wie die so gewonnenen Daten interpretiert werden können. Thema des neunten Kapitels sind die Formulierung von Pflegediagnosen sowie typische Fehler bei der Diagnosestellung. Im zehnten Kapitel wird schließlich beschrieben, wie Pflegediagnostik in die Praxis der direkten Pflege umgesetzt werden kann, und im elften, welche Konsequenzen sich aus der Einführung für die Pflegepraxis ergeben. Die Autorin macht hier deutlich, dass von ganz wesentlicher Bedeutung, dass den Pflegenden ein eigener Verantwortungsbereich zugewiesen ist. Im letzten Kapitel geht die Autorin auf die Entwicklung von Klassifikationssystemen ein; die dritte Auflage des Buches, die der deutschen Ausgabe zu Grunde liegt, erschien 20 Jahre, nach dem in Amerika die erste Konferenz zur Klassifikation von Pflegediagnosen einberufen worden war.
Wer an der Eigenständigkeit pflegerischer Tätigkeit interessiert ist, kommt an Pflegediagnosen nicht vorbei. Sie/er sollte die mit vielen praktischen Beispielen anschauliche Einführung in die theoretischen Grundlagen der Pflegediagnostik lesen.