Ethische Aspekte in der Pflege von Wachkoma-Patienten
Orientierungshilfen für eine Pflegeethik (Plenter, Christel)

Schlütersche, Hannover, 2001, 152 S., 15,90 € - ISBN 3-87706-638-0

Rezension von: Paul-Werner Schreiner

Die Fortschritte der Medizin und die dem Menschen damit in die Hand gegebenen Möglichkeiten sind in vielerlei Hinsicht zwiespältig. Das Prolongieren chronischer Leiden wird von den Betroffenen ebensowenig uneingeschränkt als Segen erlebt wie das Überführen akuter Krankheiten in chronische. Vielleicht weniger von den Betroffenen selbst - wir wissen es zumindest nicht -, vielfach jedoch von Angehörigen und auch von den Pflegenden wird es oft als sehr belastend erlebt, wenn ein Mensch durch notfallmedizinische und/oder intensivmedizinische Interventionen ein akutes Krankheitsgeschehen zwar überlebt, jedoch in einem komatösen Zustand, dem gemeinhin als selbstverständlich angesehene Charakteristika menschlichen Seins, z.B. die Kommunikationsfähigkeit im landläufigen Sinne, abgehen.

Hinsichtlich der Betreuung und Versorgung dieser Menschen tauchen eine ganze Menge schwieriger Fragen auf: wie ist diesen Menschen zu begegnen, sind es überhaupt noch Menschen, sind wir berechtigt und/oder verpflichtet, diesen Menschen um jeden Preis am Leben zu erhalten? Diese Fragen gewinnen einerseits vor dem Hintergrund einer in der Gesellschaft vorhandenen Werthaltung, die sehr stark, wenn nicht ausschließlich an Jugendlichkeit, Leistungsfähigkeit und Funktionstüchtigkeit ausgerichtet ist, woraus u.a. auch resultiert, daß alles als machbar angesehen wird, und andererseits angesichts der aktuellen sozialpolitischen Probleme an Brisanz. Mit diesen Fragen auseinandersetzen müssen sich vor allem diejenigen, denen, ohne daß sie sich distanzieren könnten, diese Aufgabe zur Erledigung übertragen wird - die Angehörigen der Pflegeberufe.

So ist ein Buch, in dem die ethischen Aspekte in der Pflege von Wachkoma-Patienten aufgegriffen werden und das Orientierungshilfen für eine Pflegeethik sein will, sehr zu begrüßen. Die Autorin ist Krankenschwester mit Fachausbildung in Anästhesie und Intensivpflege sowie Diplom-Theologin und Diplom-Pädagogin.

Im ersten Kapitel wird erläutert, was unter einem apallischen Syndrom verstanden wird, sowie die Komadefinition dargelegt. Es wird zwar erwähnt, daß das apallische Syndrom nicht mit dem Hirntod verwechselt werden darf; hier wäre aber angesichts der Tatsache, daß diesbezüglich auch bei Angehörigen der Pflegeberufe nicht selten zu Mißverständnisse bestehen, eine deutlichere Differenzierung sinnvoll und wünschenswert gewesen.

Im zweiten Kapitel werden die für die Betreuung von Wachkomapatienten relevanten rechtlichen Normen dargestellt, wobei die Fragen des Lebensschutzes sowie das Selbstbestimmungsrecht und die Sterbehilfeproblematik eine zentrale Rolle spielen. In einem einleitenden Abschnitt geht die Autorin auf das Verhältnis von Ethik und Rechtsprechung ein; hier wären einige grundlegende Erwägungen über die Bedeutung und Funktion sowie die Möglichkeiten und vor allem Grenzen von Ethik in einer wertepluralen Gesellschaft wichtig gewesen.

Im dritten Kapitel werden die Grundlagen der ärztlichen Berufsethik sowie Positionen der ärztlichen Standesvertretung und im vierten Kapitel das entsprechende für die Pflegeberufe referiert.

Im fünften Kapitel entwickelt die Autorin nun eine ethische Orientierung für den medizinisch-pflegerischen Umgang mit Menschen im Wachkoma. Sie diskutiert hierbei zunächst die Grundbedingungen des Handels, die Autonomie sowie die Annahme, daß der Mensch ein Wert an sich sei, sowie im weiteren die daraus resultierenden Prinzipien der Menschenwürde und des Lebensschutzes. Dabei setzt sie sich kritisch mit dem Utilitarismus auseinander und setzt dem eine Differentialethik ergänzt durch Elemente der Diskursethik entgegen, wobei sie grundsätzlich von einem holistisch-dialektischen Menschenbild ausgeht.

Im letzten Kapitel werden Lösungsansätze skizziert:

  • Die Autorin sieht zum einen Klärungsbedarf auf berufspolitischer Ebene: sie setzt sich hier zunächst noch einmal kritisch mit den Grundsätzen der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung auseinander, in der Einrichtung einer Pflegekammer, der Aufwertung der Pflegeberufe sieht die Autorin einen weiteren Ansatzpunkt; schließlich betont sie die Notwendigkeit der Fortbildung sowohl hinsichtlich des Krankheitsbildes "Wachkoma" als auch hinsichtlich der damit verbundenen ethischen Probleme.
  • Sie sieht zum anderen Klärungsbedarf auf organisatorischer und institutioneller Ebene; dazu rechnet sie die Einrichtung von Ethik-Komitees - leider steht in der Überschrift dieses Abschnittes irreführend "Ethik-Kommission" -, die Einrichtung von Hospiz- und Palliativstationen sowie Rehabilitationsmöglichkeiten.
Der grundsätzlichen Aussage des Buches kann ich mich anschließen: Dem Mensch im Wachkoma ist ohne irgendeine Einschränkung alles das zuzuerkennen, was mit dem Prinzip der Menschwürde zum Ausdruck gebracht wird. Er ist nicht sterbend; es kann und darf nicht sein, daß ihm in irgendeiner Weise die Bedingungen des Lebens vorenthalten werden. Dies kann man in der Tat als eine Orientierung für pflegerisches Handeln an und mit Menschen im Wachkoma formulieren.

Neben den schon erwähnten Kritikpunkten sind aber noch einige grundlegende kritische Anmerkungen an den Ausführungen von Christel Plenter notwendig:

  • Das Postulat, dem Menschen im Wachkoma die Bedingungen zur Realisierung seines Lebens nicht vorzuenthalten, dahingehend zu erweitern, daß das Leben in jedem Fall mit allen Möglichkeiten zu erhalten sei, was die Autorin an einigen Stellen klammheimlich tut, ist in keiner Weise zwingend. Es wäre in diesem Zusammenhang einmal grundsätzlich zu überprüfen, ob das Ziel der Lebensverlängerung an sich plausibel zu begründen ist - dies vor allem angesichts der Möglichkeiten der modernen Medizin - und, wenn ja, unter welchen Bedingungen. Das Gegebensein dieser Begründung selbstverständlich anzunehmen, ist eine weit verbreitete Übung und zieht sich durch die Debatte gerade um die Wachkomaproblematik durch. Es wäre hier kritisch zu diskutieren, ob die Begründung für die unstrittige Gewährleistung von Flüssigkeit, Nahrung und Schmerzmittel sowie einer guten Pflege, die stets offen ist für Entwicklungen, die die betroffenen Menschen noch machen können, und diese dann auch fördert, auch als Begründung ausreicht und herhalten kann für den Einsatz aller medizinischen Möglichkeiten zum Erhalt des Lebens dieser Menschen. Nehmen wir bei der klammheimlichen Annahme, daß dies gegeben sei, den von nicht wenigen Menschen legitimer Weise formulierten Wunsch noch ernst, nicht in einen Zustand kommen zu wollen, der da mit Wachkoma bezeichnet wird. Eine intensive Diskussion dieser schwierigen Frage würde ich mir in einem Buch, das Orientierungshilfen für den pflegerischen Umgang mit Menschen im Wachkoma geben soll, wünschen. Denn genau diese Frage ist im pflegerischen Alltag drängend.
  • Eine deutliche Kritik an den Ausführungen von Christel Plenter ist hinsichtlich ihrer Darstellung der Situation der beruflichen Krankenpflege in Deutschland zu üben. Davon zu sprechen, daß die Krankenpflege seit 1985 ein eigenständiger Beruf ist (Seite 63) zeugt ebenso von einer erschreckenden Unkenntnis der Sachlage wie die Annahme, daß die Krankenpflegeausbildung im Sinne des Krankenpflegegesetzes eine "theoretisch-wissenschaftliche" (Seite 64) sei. Man sollte sich davor hüten, die Darstellung der Realität mit Wunschvorstellungen zu verquicken. Aus dieser grundlegenden Fehlannahme resultiert dann auch die Überzeugung, daß die Einrichtung einer Pflegekammer etwas zur Verbesserung der Versorgung von Wachkomapatienten beitragen könnte. Diese in der Berufsgruppe sehr populäre Forderung wäre selbst unter der contrafaktischen Annahme, daß die Pflegeberufe eigenständig seien, nur schwerlich plausibel zu begründen.

    Auch wenn Christel Plenter wichtige Fragen unbeantwortet läßt und ihr an einem nicht unwesentlichen Punkt nicht gefolgt werden kann, bietet das Buch dennoch wichtige Anregungen und Impulse. Vor allem der Umstand, daß die Autorin, von der Theologie kommend, nicht vorhandene, absolut gültige Normen behauptet, sondern einer Differential- und Diskursethik den Vorzug gibt, durch die Normen entstehen und begründet werden, die zwar rational vermittel- und nachvollziehbar sind, aber auch wiederum keine absolute Gültigkeit für sich beanspruchen können, macht ihre Ausführungen in weiten Teilen sympathisch. Dies gilt auch für die bekundete Überzeugung, daß sich nicht für alle Grenzfälle glatte Lösungen finden lassen. Und in diesem Sinne kann ich mich der Autorin dann auch da anschließen, wo sie als Christin folgendes formuliert: "In Zweifelsfällen muß sich der autonome Mensch auf die Grundlagen seiner Autonomie besinnen, um frei und vor seinem Gewissen bestehend verantwortungsvoll entscheiden zu können. Hier ist es auch die Aufgabe, als Christ die durch Gott gewährte Freiheit in Ausrichtung auf ihn zu leben. Der Christ ist gefordert, kritisch stimulativ und integrativ auf Normen einzuwirken und dadurch die Menschenwürde und den Lebensschutz zu konkretisieren. Und letztendlich ist er gefordert, die ihm durch Gott verliehene Würde auch in sich selbst und in jedem anderen Menschen zu achten."