Identitätskritik und Lehrerbildung |
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Kritische Theorie, Hochschuldidaktik und Fachdidaktik ‚Pflege’ versucht Ulrike Greb in ihrem Buch „Identitätskritik und Lehrerbildung“ miteinander zu verbinden. Unter Rekurs auf die Sozialphilosophie Theodor W. Adornos und den „Strukturgitteransatz“ von Herwig Blankertz wird das Konzept einer „negativen Didaktik“ (S. 27) für die Pflegelehrer/-innenbildung an Hochschulen entwickelt. Die nun in gedruckter Form vorliegende Dissertation gliedert sich in drei Teile: auf die Einleitung mit der Vorstellung des erkenntnistheoretischen Ansatzes, nämlich der „Negativen Dialektik“ Adornos (S. 16-74), folgt ein „Problemaufriss“ zur Pflege als gesellschaftlicher Praxis und die Bestimmung des Bildungsbegriffs – ausgerichtet an den Grundsätzen der Kritischen Theorie (S. 75-133). Der Schwerpunkt der Dissertation liegt auf dem dritten Teil „Professionalisierung und Vergleichgültigung“, in dem die Verfasserin eine heuristische Matrix für die Pflegedidaktik als Form der Curriculumentwicklung vorlegt (S. 134-313). Ein Anhang mit Materialien sowie ein detailliertes Personen- und Sachregister beschließen das Buch.
Wissenschaftstheoretisch sieht Greb ihre eigene Position innerhalb der Kritischen Erziehungswissenschaft als dem „kritisch-materialistischen Ansatz und der Negativen Pädagogik“ (S. 26) verpflichtet. Daher grenzt sich ihr hochschuldidaktischer Entwurf von den eher handlungstheoretisch orientierten Konzepten einer kritisch konstruktiven Pflegepädagogik, z.B. bei Ingrid Darmann, Karin Wittneben, Karl Heinz Sahmel, die auf das Konzept der kommunikativen Rationalität von Jürgen Habermas rekurrieren, durch den strengen Bezug auf Adornos „Negative Dialektik“ ab. Greb entscheidet sich damit bei der Entwicklung einer Fachdidaktik ‚Pflege’ der älteren Kritischen Theorie, die innerhalb der Erziehungswissenschaft kaum eine Rezeption erfährt, den Vorzug vor der jüngeren, vom „linguistic turn“ geprägten zu geben. Sie begründet dieses mit der erkenntnistheoretischen Überlegenheit von Adornos Identitätskritik gegenüber den Habermasschen Rationalitätsansprüchen angesichts der „Ökonomisierung der Pflege“ (S. 86).
Im Zentrum von Grebs Ansatz steht der Begriff „Identitätskritik“, durch den die Gehalte der Begriffe der Theorie Adornos „Vorrang des Objekts, Nichtidentität, Widerspruch, bestimmte Negation und Konstellation“ (S. 21) eine Bündelung erfahren. Die von ihr benutzten Begrifflichkeiten der älteren Kritischen Theorie erläutert die Verfasserin in ausführlichen Exkursen und Anmerkungen. Dass der Gegenstand Pflege mit Hilfe von Adornos Dialektik adäquat untersucht werden kann, bildet die zentrale Behauptung von Greb. Daher erhebt sie Denken des „Widerspruch[s] gegen die selbsterzeugte Identität von Sache und Begriff“ (S. 98f.) zur zentralen „Reflexionskategorie“ ihres fachdidaktischen Modells.
Pflege wird dabei „als spezifische Form gesellschaftlicher Praxis“ (S. 134), die wie alle anderen Handlungsfelder Adornos Theorem von „Totalität der Gesellschaft“ (S. 38) unterliegt, ausgewiesen. Nach Deutung der Verfasserin ‚scheint’ in der Pflege mit dem Kranken, Verdrängten aber auch das „Nicht Identische“ im Sinne Adornos auf. Die „grundlegenden Widersprüche der Pflegepraxis“ (S. 139) bilden, so Greb, jeweils eine „andere Facette des Hauptwiderspruchs von Professionalisierung und Vergleichgültigung“ (S. 144). Die Widersprüche, mit denen Pflegende in der Praxis konfrontiert werden, sollen nicht als individuell verankerte subjektive Mängel fehlinterpretiert, sondern als gesellschaftlich bedingte Mängel aufdeckt werden. Diese für ein reflektiertes Selbstverständnis von Pflegenden und Pflegelehrer/innen notwendige Einsicht in der Hochschullehre zu erarbeiten, ist das erklärte Ziel ihres fachdidaktischen Konzepts. Bildung wird hier unter Bezugnahme auf die historisch-materialistische Bildungstheorie Heinz Joachim Heydorns als „Gesellschaftskritik“ (S. 21) verstanden. Durch das Festhalten am Bildungsbegriff als zentraler Kategorie ihres hochschuldidaktischen Entwurfs schert Greb aus der in der gegenwärtigen Didaktik verbreiteten Strömung einer Substitution des Begriffs Bildung durch den des Lernens aus.
Im Anschluss an den von Blankertz in seinem seit 1969 immer wieder aufgelegten Klassiker „Theorien und Modelle der Didaktik“ ausgeführten „Strukturgitteransatz“, u. a. von Gösta Thoma auf den Politikunterricht angewandt, versucht Greb die ‚objektiven’ Widersprüche der Pflegepraxis in einer Matrix für die Pflegedidaktik darzustellen. Zur Demonstration der Dialektik des Professionalisierungsprozesses der Pflege konzipiert die Verfasserin mit den Bezugssystemen „Tausch und Herrschaft“ der älteren Kritischen Theorie eine 3x3-Matrix, auf deren Zeilen drei „Sachebenen“ („Krankheitserleben, Helfen, Gesundheitswesen)“, auf deren Spalten drei „sachimmanente Perspektiven“ (S. 68f., 140) („Individuum: leibgebundene, Interaktion: humanitär-moralische, Institution: gesundheitspolitisch-ökonomische“) abgetragen sind. Jedes der sich so ergebenden neun Schnittfelder von Sachebenen und Perspektiven der fachdidaktischen Matrix verdeutlicht jeweils „einen zentralen ‚objektiven Widerspruch’ der pflegerischen Dienstleistung“ (S. 143). So wird der Widerspruch von „Krankheitserleben“ unter „leibgebundener Perspektive“ als „1.I. Leiderfahrung und Leibentfremdung“, der von „Krankheitserleben“ unter „gesundheitspolitisch-ökonomischer Perspektive“ als „1. III. Individualität und Standardisierung“ benannt.
Von den neun Widersprüchen sind bereits fünf aufgearbeitet, und zwar neben den schon genannten noch: „2. I. Beziehung und Methode“, „2. III. Tradition und Emanzipation“, „3. III. Rentabilitätsanspruch und Soziale Gerechtigkeit“. In den z.T. bereits publizierten Abschnitten werden von Greb bestimmte Topoi der Pflegewissenschaft wie z.B. das Prinzip der Patientenorientierung (S. 116f., 246f.), das Konzept der Schlüsselqualifikationen (S. 189-191) und der Leitbildgedanke (S. 247f.) kritisch hinterfragt. Außerdem finden sich in den Kapiteln ergiebige Materialien ausgewertet, u.a. zu „Entfremdung und Verdinglichung“ in der Pflege (S. 157-175), zur Begriffsbildung der Pflegewissenschaft (S. 231-241, 329-331), zum Verhältnis von Nationalsozialismus und Pflege (S. 255-273) sowie zu den Auswirkungen des Neoliberalismus auf den Pflegesektor (S. 274-313).
Im Gegensatz zur „Konstruktivistischen Didaktik“ teilt das Konzept der Verfasserin durch die Rezeption des von Blankertz gegen die „technologische Wendung der Didaktik“ und das Prinzip des Kanons vorgestellte Modell der Curriculumentwicklung mit der Geisteswissenschaftlichen Didaktik den Ausgang von der „Sach-Logik“. Den Einwänden, dass ein Strukturgitter die Gefahr eines Abgleitens in ein technologisches Fahrwasser birgt und Dialektik grundsätzlich nicht durch Schemata darstellbar ist, begegnet Greb mit dem Hinweis auf den heuristischen Charakter ihrer Matrix und der konkreten Ausgestaltung der Felder. Durch den ausschließlichen Rekurs auf Adornos These von der „Nichtidentität von Identität und Nichtidentität“ (S. 27) zeichnet sich der hier vorliegende Ansatz gegenüber anderen sich zur Kritischen Erziehungswissenschaft rechnenden Konzepten durch erkenntnistheoretische Stringenz aus und entgeht damit den wissenschaftstheoretischen Unzulänglichkeiten der kritisch konstruktiven Erziehungswissenschaft Wolfgang Klafkis, wie sie sich aus einer Vermischung des hermeneutischen Paradigmas mit Elementen der Kritischen Theorie ergeben.
Gegenüber den verbreiteten prä- und pseudowissenschaftlichen Ansätzen und der unkritischen Rezeption des Radikalen Konstruktivismus in der Pflegepädagogik leistet Greb mit ihrer Dissertation nicht nur einen entscheidenden Beitrag zur Profilierung der Pflegepädagogik, sondern konturiert zugleich mit ihrer Strukturanalyse von Pflege eine „kritische Theorie der Pflege[wissenschaft]“ (S. 146). Auch für Lehrende, die sich nicht am Paradigma der älteren Kritischen Theorie orientieren, liefert das Buch aufschlussreiche Seminarmaterialien und Untersuchungen, welche die Auswirkungen der Antinomien der Moderne auf die pflegerische Praxis verdeutlichen. Der Ansatz einer „negativen“ Hochschuldidaktik stellt allerdings eine Provokation für Vertreter des empirischen oder des hermeneutischen Paradigmas dar. Das Verdienst von Grebs Arbeit liegt daher auch darin, die Diskussion um die wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Grundlagen der jungen Disziplinen Pflegepädagogik und Pflegewissenschaft entscheidend angestoßen zu haben. Außerdem bereichert – angesichts der „neurobiologischen Wende“ in der Didaktik – der Entwurf einer ‚nicht-viablen’, nicht biologistisch verkürzten, dem Bildungsgedanken verpflichteten Fachdidaktik ‚Pflege’ den didaktischen Diskurs.