Fallorientierte Didaktik in der Pflege |
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Das Buch „Fallorientierte Didaktik“ ist für Pflegelehrer/-innen geschrieben, die aufgrund der neuen gesetzlichen Bestimmungen zu situationsbezogenem und fächerintegrierendem Lehren und Lernen aufgefordert sind. Dabei ist „die Arbeit mit Fällen in der Pflegeausbildung nicht neu“, wie es im ersten Satz der Einleitung lautet. Doch dient diese nicht mehr nur zur Veranschaulichung von theoretischem Unterricht, sondern gehört Fallarbeit als „konstitutives Merkmal zum professionellen Pflegehandeln ... Dies fordert von den Lehrenden andere Vorgehensweisen in Unterricht und Prüfung.“ (S.1)
Hilfestellungen dazu werden in den aufeinander aufbauenden Kapiteln systematisch entfaltet. Dabei hält die Autorin eine bestimmte Reihenfolge beim Lesen nicht für zwingend erforderlich, da durch ansprechende Querverweise ein vertieftes Bearbeiten und Nachschlagen jederzeit möglich ist.
Nach einer Einführung (Kapitel 1) wird im 2. Kapitel die „Notwendigkeit einer fallbezogenen Pflegeausbildung“ begründet. Als Quellen werden nicht nur die deutschen Ausbildungsgesetze und Lehrplanvorgaben der Bundesländer angeführt, sondern auch auf die berufspädagogischen und pflegedidaktischen Konzepte verwiesen. Dabei stehen der Kompetenzerwerb und die professionstheoretischen Begründungen im Vordergrund.
Im Kapitel 3 wird erst einmal erläutert, was ein Fall ist. Dabei helfen „Definitions- und Abgrenzungsversuche“ die Begriffsvielfalt zu klären. Eine Typologie aus der Schweiz (von Edmund Steiner) dient als Bezugsrahmen (was nicht verwundert, wenn man weiß, dass in der Schweiz der Fallbezug durch die „Neuen Ausbildungsbestimmungen“ von 1992 gesetzlich für Prüfung und Unterricht verankert wurde). Die Typologie macht auf die unterschiedlichen Zielsetzungen fallbezogener Lernmethoden aufmerksam, entweder die „Förderung von Entscheidungs- und Problemlösungskompetenz“ oder die „Förderung hermeneutischer Kompetenz“. Beides kann mit einem unmittelbaren oder mittelbaren Erfahrungsbezug der Lernenden durch verschiedene Methoden erreicht werden, in dieser Typologie als Fallmethode, Falldialog, Fallarbeit oder Einzelfallprojekt bezeichnet.
Im 4. Kapitel wird das Situationsverständnis nach Franz-Josef Kaiser (1983) erläutert. Dabei wird auf einen systemischen Ansatz als Bezugsrahmen zurückgegriffen, der in einer früheren Veröffentlichung von Hundenborn entwickelt und hier nicht ohne weiteres nachvollziehbar ist. Die Verknüpfung der Falltypologie von Steiner mit den konstitutiven Elementen einer Pflegesituation nach Kaiser geben Anregungen für methodische Varianten.
Das Herzstück des Buches ist im Kapitel 5 zu finden. Die „Fallmethode als Lehr- und Lernverfahren“ zur Förderung von Problemlösungskompetenz verlangt die Konstruktion eines Falles, da die Lernenden hier nicht unmittelbar als Fallakteure beteiligt sind. Hier werden die Anforderungen an einen Fall (5.2.1) ausführlich dargestellt, was für alle Lehrpersonen, die sich mit dem Lernfeldansatz oder dem POL–Ansatz auseinandersetzen und Lernsituationen beschreiben, ein hilfreiches Instrument darstellt. Die Kriterien dafür wurden in der Literatur schon häufig erwähnt (vgl. Schwarz-Govaers 2006, Printernet 8/12, 665-664), aber hier besonders präzise ausgeführt.
Zu den im Buch zitierten Fallvarianten (case study usw.) werden methodische Schwerpunkte in Anlehnung an Kaiser (1976) zur Bearbeitung erläutert und durch ein Beispiel verdeutlicht. Der Bezug der Fallvarianten zu den Schritten des Pflegeprozesses löst bei den Lehrpersonen sicher Aha’s aus und erleichtert das Verständnis für die verschiedenen fremdartig klingenden Methoden. Als Ablauf des Lehr- und Lernprozesses beim Einsatz der Fallmethode (5.2.4) wird die Bearbeitung beim problemorientierten Lernen (POL) hervorgehoben. Doch auch verschiedene andere Lernprozessphasen erfahren eine ausführliche Darstellung, wie die von Kaiser (leider ohne Jahresangabe, vermutlich 1983, was verwirrt, da zwei Autoren mit Namen Kaiser zitiert werden), von Gruber, Flechsig, Riedl und Telesozial. Die Aktions- und Sozialformen zu diesen Lernphasen werden im anschließenden Abschnitt dargestellt.
Im Gegensatz zur Fallmethode ist das „Einzelfallprojekt“ ein Lern-Lernverfahren mit unmittelbarem Fallbezug (5.3.) Hier sind Hinweise zur Anleitung von einzelnen Lernenden in der Reflexion des Handelns und der eigenen Erfahrungen in Pflegesituationen zu finden. Hier wird auf das Reflexionskonzept von professionell Handelnden nach Schön (1983) verwiesen, als methodisches Verfahren das „Cognitive Apprenticeship“ nach Collins et al. (1989).
Mit „Fallbezogene Verfahren zur Förderung hermeneutischer Kompetenz“ schließt sich das bedeutsame Kapitel 6 an. Die für den „Falldialog“ (6.2) beschriebenen Fälle stellen unbearbeitete Pflegegeschichten dar. Hier kommt der Beziehung zwischen Interpret und Fall eine besondere Bedeutung zu. Die Reflexion eines realen Falls unter möglichst vielen Perspektiven soll die eigenen Deutungsfähigkeiten erweitern und zu einem „Entwurf zukünftiger Handlungsmöglichkeiten“ (nach Kade, S.103) beitragen. Auch hier werden die Anforderungen an einen Fall genau beschrieben (6.2.1). Methodische Hinweise zur hermeneutischen Textinterpretation beziehen sich vor allem auf die Deutungsmuster- und Sequenzanalyse, veranschaulicht durch ein Beispiel.
Die Fallarbeit (6.3) bezieht sich auf das Arbeiten an konkreten selbst erlebten Praxissituationen, die im Unterricht oder in der Praxisanleitung eine Reflexion der eigenen Erfahrungen ermöglicht. Hier werden verschiedene Formen der (kollegialen) Praxisberatung erläutert, aber auch die Form der Fallarbeit als Fallstudie (nach Kaiser/Künzel, 1996), wie sie in der Schweiz seit 1992 verpflichtend für das Abschlussexamen eingeführt wurde. Doch war bei den Schweizer Konzepten eher die analytische Problemlösekompetenz gefragt, die eine Anwendung von pflegewissenschaftlichem Wissen auf pflegepraktische Probleme einforderte. Die eigene hermeneutische Deutungskompetenz und das Reflektieren von subjektiven Theorien wurde weniger beachtet (eher noch durch das „Subjektive Vorverständnis“ nach Steiner).
Ein Highlight für alle Lehrpersonen bildet das Kapitel 7 mit „Fallbezogene Lernerfolgsüberprüfungen“. In allen Alten- und Krankenpflegeschulen stellen die neuen gesetzlichen Bestimmungen eine große Herausforderung dar, wie nun die mündlichen und schriftlichen Prüfungen zum Abschluss der Ausbildung zu gestalten sind. Im Buch wird betont, dass fallbezogene Prüfungen nur gerechtfertigt sind, wenn sie im Ausbildungsverlauf entsprechende Einübung erfuhren (S.135). Zentrales Ziel der pflegerischen Ausbildung muss die Entfaltung von beruflicher Handlungskompetenz sein. Und nur diese soll in den Prüfungen gezeigt werden. Kompetenz ist aber immer an Individuen und an Situationen gebunden (S.140). Deshalb können sich kompetenzorientierte Prüfungen auch nicht auf die Überprüfung von Fachwissen beschränken (S.144). Die nach der Typologie von Steiner beschriebenen fallbezogenen Verfahren eignen sich zum Nachweis von hermeneutischer wie Problemlösungskompetenz. Es werden Indikatoren zur Operationalisierung von Gütekriterien für die Handlungskompetenzdimensionen (nach Richter, 2002) vorgestellt.
Im Kapitel 7.4 finden sich dann die konkreten Vorschläge für ein fallbezogenes Vorgehen im Rahmen der Themenbereiche für die schriftliche und mündliche Prüfung und zwar ausführlich (von S.155-190) für alle Themenbereiche gemäß KrPflAPrV der Gesundheits- und Krankenpflege/Kinderkrankenpflegeausbildung (7.4.1) sowie gemäß AltPflAPrV für die Altenpflegeausbildung (7.4.2). Hilfreich sind auch die Leitfragen zur Analyse und Beurteilung fallorientierter Prüfungsaufgaben. Als Beurteilungskriterien dienen wieder die Ausführungen von Kaiser/Künzel und Steiner aus der Schweiz (7.5).
Im 8. Kapitel erhalten die Leser und Leserinnen Vorschläge zum „Anlegen von Fallsammlungen“. Die einzelnen Arbeitsschritte werden erläutert. Zum Schluss folgen noch Gedanken zu den „Grenzen fallbezogenen Arbeitens in der Pflegeausbildung“ (Kapitel 9) mit einem Ausblick auf die „Kompetenzförderung der Lehrenden durch fallbezogenen Unterricht“ (9.3).
Dem letzten Satz möchte ich – wie dem Buch insgesamt – zustimmen: „Nicht Reden über Fälle oder ihren Einsatz im Unterricht, sondern eigene Arbeit am Fall muss demnach die Lehrerbildung maßgeblich prägen, wenn die Verfahren fallbezogenen Lernens systematisch in der Pflegebildung verankert werden sollen“ (S. 214)