Gewalt gegen Pflegekräfte
Problematische Situationen erkennen und lösen (Panke-Kochinke, Birgit)

Mabuse-Verlag, Frankfurt, 2008, 106 S., 14,90 €, ISBN 978-3-938304-81-5

Rezension von: Paul-Werner Schreiner

Wenn von Gewalt in pflegerischen Beziehungen die Rede ist, zielt dies häufig und in erster Linie auf die in den letzten Jahren dankenswerter Weise vermehrt an die Öffentlichkeit gelangten Gewaltaktionen an Pflegebefohlenen – vor allem in institutionellen, aber auch im ambulanten Bereich. Aber auch Pflegende sind vielleicht gar nicht so selten Gewaltaktionen durch zu Pflegende ausgesetzt, was noch am ehesten im Bereich der Akutpsychiatrie ein Thema ist, jedoch bislang nicht Gegenstand breiter Erörterung war und ist. So ist das Buch von Birgit Panke-Kochinke nur zu begrüßen.

In einer qualitativen empirischen Studie mit der Methodik der rekonstruktiven qualitativen Sozialforschung ermittelte die Autorin,

  • was Pflegende und die Leitungspersönlichkeiten unter Gewalt gegen Pflegende verstehen
  • welche Konflikte beschrieben werden und wie versucht wird, die Konflikte zu lösen
  • und welche Handlungsmuster sich unter didaktischer Perspektive lösungsorientiert und fallorientiert erfassen lassen.
Vor dem Hintergrund der in neun Einzelinterviews und vier Gruppendiskussionen ermittelten Daten wird ein Präventions- und Interventionsinstrument entworfen, das dazu beitragen soll, eskalierende Situationen zu entschärfen und Gewalt gegen Pflegende zu minimieren. Das Instrument beinhaltet sieben Schritte. Folgende Fragen sind dabei zunächst zu beantworten:
  • Was ist passiert?
  • Was tue ich bereits, um mit dem Problem der Gewalt, die gegen mich gerichtet ist, fertig zu werden?
  • Was funktioniert in meinem Beruf nicht so gut?
  • Was mache ich/machen die anderen im Beruf bereits richtig und gut?
  • und schließlich – Was ist das eigentliche Problem?
Ziel des Nachfragen ist es, herauszufinden, ob der Auslöser der Konfliktsituation mit dem eigentlichen Problem deckungsgleich ist bzw. eine Antwort auf die Frage zu finden: Was ist das eigentliche Problem?

Im sechsten Schritt wird dann, wenn eine Deckungsgleichheit festgestellt wurde, die Frage gestellt: Was kann ich auf der Grundlage meiner Ressourcen und der Ressourcen der anderen tun, um das eigentliche Problem im Umgang mit Gewalt, die gegen mich gerichtet ist, zu lösen?

Im siebten Schritt wird der Prozess noch einmal überprüft.

Es ist durchaus vorstellbar, dass mit dem in dem Buch entwickelten Instrument Aktionen von Pflegebedürftigen, die für jeden Betrachter unmittelbar als Gewaltaktionen erkennbar sind, aufgefangen werden können. Positiv ist vor allem, dass die Leitungspersonen ganz gezielt einbezogen werden.

Fragen stellen sich hinsichtlich des zugrunde gelegten Gewaltbegriffs. Angemessen ist ohne Zweifel, dem Zusammenhang von Angst und Gewalt eigenen Abschnitt zu widmen. Fraglich bleibt, ob in wenigen Interviews ein angemessenes Verständnis von Gewalt entfaltet werden kann – vor allem: wonach wurde gefragt? Viele Formen subtiler Gewalt bleiben unerwähnt. Es wird nicht reflektiert, dass von Pflegebedürftigen an Pflegenden ausgeübte Gewalt nicht Gewalt in einer Beziehung auf Augenhöhe ist, sondern sich in einem Setting ereignet, das durch ein eindeutiges Machtgefälle gekennzeichnet ist – die Pflegebedürftigen erleben mehr oder weniger bewusst ihre Abhängigkeit von den Pflegenden. Und dies ist unabdingbar zu bedenken, wenn ein angemessenes Verständnis über Gewalt gegen Pflegende entwickelt werden soll. Mit dem Faktum des Machtgefälles in jeder Pflegebeziehung eng in Verbindung steht ein anderes Problem. Die Autorin zitiert Nummer-Winkler, wonach physische Gewalt monologisch, psychische hingegen ein interaktives Geschehen ist. Und an anderer Stelle geht sie mit Luhmann davon aus, dass Konflikte innerhalb von Systemen durch hohe Beliebigkeit, fast Voraussetzungslosigkeit des Anfangens gekennzeichnet sind. Eine Rezension kann nicht der Ort sein, zu prüfen, ob die Zitierten angemessen wiedergegeben wurden. Das von der Autorin Dargestellte ist jedoch zumindest missverständlich. Dass sich Gewaltaktionen gleich welcher Art quasi aus dem Nichts ereignen, dürfte die absolute Ausnahme sein, unbesehen der Tatsache, dass selbstverständlich die Schwelle zur Gewaltbereitschaft individuell unterschiedlich ist und durchaus durch eine Krankheit beeinflusst sein kann. In der Regel ereignen sich Gewaltaktionen in einer Beziehung, die immer eine Interaktion, eine dialogische Situation darstellt. Und sie ereignen sich eigentlich immer vor einer Geschichte – Biografiearbeit bleibt unerwähnt. Und beides müsste in Kombination mit dem Problem des Machtgefälles in jeder Pflegebeziehung intensiv bedacht werden.

Und noch ein weiterer Aspekt verdient Erwähnung. Im Literaturverzeichnis ist zwar der wichtige und erhellende Aufsatz von Irmgard Hofmann „Konstitutive Grenzüberschreitung im Pflegealltag. Eine Reflexion über den Zusammenhang zwischen unvermeidbarer Grenzüberschreitung einerseits und Autonomieverletzung bis zur Gewalt andererseits“ zu finden; auch findet sich in dem Buch ein kurzer Exkurs zu der Frage, ob Pflege ein gewalttätiger Beruf ist. Die damit verbundene Problematik wird aber in keiner Weise der Bedeutung, die ihr für die in dem Buch behandelte Fragestellung zukommt, angemessen ausgeleuchtet.

Wie schon erwähnt, das in dem Buch dargestellte Instrument mag erfolgreich eingesetzt werden können, es bleibt aber an der Oberfläche der behandelten Problematik.

Abschließend sei die Anmerkung erlaubt, dass dem Buch ein besseres Lektorat zu wünschen gewesen wäre. Im Text wird auf Referenzliteratur verwiesen, die im Literaturverzeichnis nicht erscheint.