interrel kompetenz1
Merkt, Heinrich et al. (Hrsg.)
Interreligiöse Kompetenz in der Pflege
Pädagogische Ansätze, theoretische Perspektiven und empirische Befunde
Waxmann, Münster, 2014, 271 S., 32,90 €, ISBN 978-3-8309-3162-1
(Glaube – Wertebildung – Interreligiosität. Berufsorientierte Religionspädagogik, Bd. 7)

Das Sammelwerk greift das durch Migration und gesellschaftlichen Wandel aktuelle Thema der Interreligiosität auf und will pflegebezogene Berufs- und Religionspädagogik bzw. -didaktik im Hinblick auf interreligiösen Kompetenzerwerb im Rahmen der Pflegeausbildung zusammenführen. Das Werk bietet sowohl theoretische und empirische Befunde zur Weiterentwicklung der Pflegeausbildung an als auch Beiträge zur Unterrichtsforschung im Sinne einer berufsorientierten Religionspädagogik sowie zur empirischen Bildungsforschung.
 

Herausgegeben wurde es von den Professoren für Religionspädagogik Albert Biesinger und Friedrich Schweitzer sowie von Heinrich Merkt, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Tübingen. Unter den insgesamt 15 Autoren finden sich neben katholischen und evangelischen Theologen und Religionspädagogen Spezialisten für islamische Theologie bzw. Religionspädagogik, Sozialpädagogen, Krankenhausseelsorger, Psychologen und zwei Fachfrauen aus der Pflege bzw. Pflegepädagogik.
 

Der Band ist Ergebnis eines interdisziplinären Forschungsprojektes, das von März 2011 bis September 2014 mit Unterstützung der Robert-Bosch-Stiftung, der Evangelischen Landeskirche in Württemberg und der Diözese Rottenburg-Stuttgart an der Universität Tübingen durchgeführt wurde. Dabei wurden Unterrichtseinheiten und -module entwickelt, in ihrer Umsetzung begleitet und evaluiert. Anregungen für das Projekt gehen auf Koordinationskreis „Ethische Bildung in der Pflege“ zurück, der seit 1988 ethische Themen der Pflegeausbildung und -praxis erörtert und Bedarf im Hinblick auf interreligiöse Kompetenzentwicklung identifiziert hat. Neben der hier besprochenen Publikation sind daraus kompetenzorientierte Unterrichtseinheiten für die Alten- sowie die Gesundheits- und Krankenpflegeausbildung mit Arbeitsmaterialen und Hintergrundinformationen entstanden (publiziert als: Merkt, Schlipf, Schweitzer & Biesinger (2014): Ethische und interreligiöse Kompetenzen in der Pflege. Unterrichtsmaterialen für die Pflegeausbildung. Göttingen). 
 

Der Sammelband gliedert sich in drei Teile. Eine Einführung geht diesen voraus.
• Teil I widmet sich der interreligiösen Pflegekompetenz als religionspädagogischer Herausforderung (S. 13-103): Heinrich Merkt stellt das Forschungsprojekt anhand der Entwicklung, Erprobung und Evaluation interreligiöser Unterrichtsmodule vor (S. 13-24) und entwickelt im Anschluss daran einen Modellvorschlag, wobei verschiedene Fähigkeitskomponenten zugrunde gelegt und zweifach ausformuliert werden (S. 25-46).
Matthias Gronover thematisiert die religiöse Kompetenz in der Pflegeausbildung zwischen Berufs- und Religionspädagogik (S. 47-62).
Hanne Schnabel-Henke gibt einen exemplarischen Einblick in die didaktische Umsetzung interreligiöser Kompetenz im Rahmen einer 6-stufigen Unterrichtsplanung (S. 63-72).
Evelyn Krinner gibt einen Überblick über die methodische Umsetzung in neun Modulen (S. 73-88).
Murat Kaplan und Margrit Schlipf gehen der interreligiösen Pflegekompetenz im säkularen Kontext nach, wobei der Fähigkeit zum Perspektivwechsel für Schüler, die über keine eigene religiöse Praxis bzw. keine Einbindung in eine institutionalisierte Religion verfügen, besondere Bedeutung beigemessen wird (S. 89-98).
Albert Biesinger entwickelt sieben Thesen zur Bedeutung der interreligiösen Bildung für den Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen (S. 99-103).
• Teil II beleuchtet die interreligiöse Pflegekompetenz in interdisziplinärer und interreligiöser Sicht (S. 107-173): Konkretionen und Implikationen der interreligiösen Pflegekompetenz aus pflegeberuflicher und pflegeethischer Sicht steuern Annette Riedel und Sonja Lehmeyer bei. Dabei konkretisieren sie das Modell der Pflegerischen Handlungskompetenz, modifiziert nach Raven (2006) und Weidner (1995) hinsichtlich der interreligiösen Pflegekompetenz (S. 107-127). Mit der interreligiösen Pflegekompetenz befassen sich aus muslimischer Sicht Ilhan Ikilic (S. 129-142), aus jüdischer Sicht Barbara Traub (S. 143-154) und aus christlicher Sicht Karin Grau und Erwin Wespel (S. 155-173).
• In Teil III steht eine empirische Untersuchung zur interreligiösen Pflegekompetenz im Fokus (S. 177-246). Friedrich Schweitzer stellt die Bedeutung der Untersuchung im religionspädagogischen Forschungskontext dar (S. 177-190), bevor diese empirische Studie zur Struktur interreligiöser Pflegekompetenz und zur Wirksamkeit interreligiöser Unterrichtsmodule an Alten-, Gesundheits- und Krankenpflegeschulen von Heinrich Merkt und Martin Losert dargestellt wird (S. 191-246).
 

Im Anschluss folgen ein Verzeichnis der Autorinnen und Autoren (S. 247-249) und ein Anhang mit Fragebogen, Hauptkomponentenanalyse und Regreßmodellen für den Test interreligiöser Pflegekompetenz (S. 251-271).
 

Die Publikation greift eine hochaktuelle Thematik auf und kann zusammen mit einem Supplement einen substantiellen Beitrag zur Weiterentwicklung der Pflegeausbildung im Hinblick auf eine interreligiöse Kompetenzentwicklung leisten. Dabei werden Spezifika der Religionspädagogik mit den Anforderungen bzw. der Kompetenzorientierung der Berufspädagogik ins Verhältnis gesetzt sowie deren jeweilige Möglichkeiten und Grenzen reflektiert. Die empirische Studie zur Wirksamkeit interreligiöser Unterrichtsmodule an Pflegeschulen antwortet auf ein Forschungsdesiderat und eröffnet Perspektiven auf eine Evidenzbasierung von Religionsdidaktik – einschließlich ihrer methodischen Schwierigkeiten.
 

Gleichzeitig werden die Grenzen von Kompetenzorientierung und Messbarkeit von religionsbezogenen Inhalten deutlich. Lebendig praktizierte Religion geht wesentlich mit religiöser Erfahrung einher, die sich für Außenstehende nicht replizieren und in empirisch messbaren Handlungen auflösen lässt. Berufspädagogische Kompetenzorientierung läuft in diesem Zusammenhang Gefahr, in Handlung übersetzte Gesinnung beibringen zu wollen. Gerade eine differenzierte und kritische Haltung seitens der Schüler scheint schwer mit den Kategorien „kompetent“ versus „nicht kompetent“ fassbar. Will man eine Quasi-„Konditionierung“ im Wege interreligiöser Kompetenzvermittlung vermeiden, ist die Möglichkeit von Schülern, auf Distanz zu Inhalten und Konzept zu gehen, zu bedenken. So wird einerseits die Unterrichtspraxis um Räume der Reflexion und der Diskussion einschließlich der Möglichkeit der Artikulation persönlicher und konzeptueller Grenzen erweitert werden müssen; andererseits scheint hier der Forschung ein weiteres Feld eröffnet.
 

Während die Darstellung interreligiöser Pflegekompetenz aus muslimischer und jüdischer Sicht bei religiösen Geboten und Praktiken ansetzt, stehen aus christlicher Perspektive eher kirchliche Verlautbarungen und ethische, den Katalogen von Grund- und Menschenrechten bzw. pflegeethischen Kodizes angelehnte, Werte bzw. die kirchliche Haltung zum interreligiösen Dialog im Zentrum (S. 155-173). Dass sich die christlichen Konfessionen in ihrer Praxis unterscheiden und auch das Christentum mit einem Glaubensbekenntnis und spezifischen Wahrheitsansprüchen auftritt, kommt m.E. zu kurz. Damit jedoch auch Andersgläubige bzw. säkular geprägte Pflegeschüler ein Verständnis des Christentums entwickeln können, erscheint die Herausarbeitung christlicher Propria von Bedeutung.
 

Unbeleuchtet bleiben Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften wie Buddhisten, Unitarier, Universalisten, Freireligiöse oder Humanisten, deren religiöse Vorstellungen dem verbreiteten Zeitgeist sehr nahestehen dürften, auch wenn die Zahl ihrer organisierten Mitglieder nicht an die der Kirchen oder der anderen untersuchten Religionsgemeinschaften heranreicht.
 

Insgesamt dominiert die pädagogische und interreligiös-theologische gegenüber der pflegerischen Perspektive, sodass pflegespezifische Handlungslogiken und pflegeberufliches Selbstverständnis eher im Hintergrund bleiben. Genau dieser Aspekt wäre im Sinne einer am Pflegeberuf orientierten Religionspädagogik jedoch zu stärken.
 

Das broschierte Buch liegt in sehr guter Druckqualität und klar gegliedert vor. Graphische Darstellungen erschließen statistische Auswertungen und bieten eine Übersicht über Modelle oder Unterrichtsmodule. Zusammen mit den Unterrichtsmaterialen erscheint der Sammelband ausgesprochen lesenswert nicht nur für Wissenschaftlerinnen, sondern auch für Pflegepädagogen in der Praxis. Mögen die Unterrichtsmodule weite Verbreitung erfahren und neue Forschungen anregen!
 
Eine Rezension von Dipl-Theol. Andrea Windisch B.Sc.