Stoffers
 
Stoffers, Tabea
Demenz erleben
Innen- und Außensichten einer vielschichtigen Erkrankung
Verlag Springer, Wiesbaden, 2016, 328 S., 49,99 €, ISBN-13: 978-3658124687
 
Die vorliegende Arbeit einer Diplom-Sozialpädagogin und Diplom-Pädagogin, die bei der Diakonie Südwestfalen in Siegen beschäftigt ist, wurde als Dissertation an der Universität Siegen angenommen. Es handelt hierbei um eine Sekundäranalyse: 47 Berichte von Demenzerkrankten und pflegenden Angehörigen über das Erleben und Verarbeiten der Erkrankung in den verschiedenen Stadien. Diese Berichte sind als  Monographien publiziert worden.
 
Zu Beginn des ersten inhaltlichen Teils (Themenrelevante Aspekte und Auswahl empirischer Befunde, Seite 7 – 103) wird das Krankheitsbild Demenz u. a. mit den Aspekten Ätiologie, Diagnose, Klinik und Verlauf beschrieben. Hieran schließen sich direkt so genannte „Diskurskontexte zum Phänomen Demenz“ mit der Kritik an dem „Standardmodell“ und an dem „biomedizinischen Modell“ an, Positionen, die ausschließlich von den Vertretern des so genannten „personenzentrierten“ Ansatzes (Kitwood u. a.) vertreten werden. Des Weiteren wird die Demenz im Kontext verschiedener psychosozialer Dimensionen wie Bindung, Identität und Autonomie erklärt. Den Abschluss bilden Ausführungen über die Demenz in verschiedenen Lebenslagen: u. a. Privathaushalt und Partnerschaft, Elternpflege und stationäre Pflege.
 
Im Hauptteil der Arbeit (Empirische Ergebnisanalyse, Seite 107 – 267) wertet die Autorin das umfangreiche Datenmaterial der Berichte von Demenzkranken und pflegenden Angehörigen unter den folgenden Aspekten aus: das Erleben der Demenz aus der Perspektive der Betroffenen und der unmittelbar Pflegenden und Betreuenden und der Krankheitsprozess in Selbstzeugnissen. Hierbei werden u. a. die krankheitsbedingten Veränderungen wie z. B. die kognitiven Einbußen, Persönlichkeitsveränderungen, Defizitkonfrontationen und Bewältigungsstrategien, Gefühle und Stimmungen anhand von ausführlichen Zitaten aus den Monographien beschrieben. Es folgen Darstellungen über das Erleben und Verarbeiten der Diagnoseeröffnung und der Heimübersiedlung. Darüber hinaus wird auf das späte und finale Stadium und die Bedürfnisse, Wünsche und Forderungen der Demenzkranken eingegangen.
 
Im abschließenden Teil (Fazit und Ausblick, Seite 269 – 282) weist die Autorin ausführlich auf ihre Sichtweise der Demenz hin. Sie spricht sich gegen ein „einseitig biomedizinisches Demenzbild“ aus und plädiert für ein „ganzheitliches Demenz-Modell“, das auch die „psychosoziale Komponente“ der Erkrankung angemessen zu erfassen vermag. So gelte es, einen „Aktionsplan“ zu entwickeln, der von einem noch zu gründenden „nationalen interdisziplinären Forschungszentrum für Demenzkranke“ unter Einbeziehung verschiedener Professionen und auch ehrenamtlich engagierter Mitbürger ausgearbeitet werden sollte. Des Weiteren favorisiert sie wohnortsnahe Versorgungseinrichtungen wie ambulant betreute Wohngemeinschaften unter Einbeziehung des bürgerschaftlichen Engagements anstelle von großen Pflegeheimen.
 
Eine Bewertung der vorliegenden Arbeit umfasst die folgenden Kritikpunkte:
• Die Annahme der Autorin, man könne die Erfassung der Demenz in die zwei sich widersprechenden Konzepte „Standardmodell“ (reduktionistisches biomedizinisches Modell) und „ganzheitliches Demenzbild“ unterteilen, entspricht nicht dem wissenschaftlichen Stand der Forschung. Es handelt sich bei dieser konstruierten Dualität zweier Erfassungsmodalitäten um ein bloßes Gedankenkonstrukt der so genannten „personenzentrierten“ Ansätze, das keinen Realbezug besitzt.
• Auf der Grundlage dieses letztlich diffusen doppelten und zugleich widersprüchlichen Demenzmodells gelingt es der Autorin auch nicht, ein komplexes Bezugssystem zur Erfassung und Erklärung der verschiedenen Krankheitssymptome in den Berichten der Betroffenen und ihrer Angehörigen zu entwickeln. Dieser Sachverhalt des Fehlens eines wissenschaftlich fundierten Orientierungsrahmens wirkt sich deutlich auf die Verarbeitung des umfangreichen Datenmaterials dergestalt aus, dass die Ausführungen sich auf bloße Beschreibungen der verschiedenen Phänomene beschränken. Die Ebene der Analyse und Interpretation des Datenmaterials unter dem Gesichtspunkt der Ermittlung neuer Erkenntnisse kann auf diesem Hintergrund jedoch nicht erreicht werden. 
 
Eine Rezension von Sven Lind