Pflegen lernen Fichtmüller, Franziska und Anja Walter )V&R Unipress, Göttingen, 2007, 737 S., 47,90 €, ISBN 978-3-89971-383-1 Rezension von:Dr. Renate Schwarz-Govaers |
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So einfach und klar der Titel ist, so komplex und kompliziert klingt erst einmal der Untertitel. Doch nachdem ich mich durch die 700 Seiten Begriffs- und Theoriebildung durchgearbeitet habe, erscheint auch der Untertitel völlig verständlich. Er verweist auf eine anspruchsvolle Forschungsarbeit, die von Franziska Fichtmüller und Anja Walter als gemeinsame Dissertation vorgelegt wurde. Sie haben dazu in einer mehrjährigen Forschungstätigkeit Lernende, Lehrende und Anleitende der Pflege in Schule und Pflegepraxis untersucht und dabei eine gegenstandsfundierte empirische Theorie zum „Pflege gestalten lernen in der Pflegepraxis“ generiert. „Pflege lernen“ umfasst dabei wirklich das komplexe Feld des theoretischen und vor allem auch des praktischen Erwerbs von pflegerischem Handeln.
Folgende zentralen Fragestellungen leiten ihre Arbeit:
• „Welche Phänomene kennzeichnen das Lernen und Lehren von beruflicher Pflege? Wie können Lehr-Lernprozesse in Pflegeausbildungen pflegedidaktisch beschrieben werden?
• Welche Wirkzusammenhänge des Lernens und Lehrens lassen sich beschreiben? Welche Bedingungen bestimmen sie in welcher Weise?“ (S. 37)
Das Forschungsfeld wurde durch Beobachtungen in Schule und Pflegepraxis, Interviews mit Lernenden, Anleiter/-innen und Lehrpersonen und über Lerntagebücher erschlossen. Anhand der Methodologie der Grounded Theory mit Perspektivenverschränkung von Selbstauslegungen der Lernenden und Lehrenden sowie der Beobachterperspektive wurden die Daten analysiert und konzeptualisiert (s. S. 48). Die dabei entwickelten eigenwilligen Kategorien erschließen sich besonders nach den einzelnen Beschreibungen und Situationsbelegen und wirken dann umso überzeugender. Nachdem ich mich in den Sprachmodus eingewöhnt hatte und auch durch die Perspektivenverschränkung daran gewöhnt hatte, dass die gleichen Situationen immer wieder als Beleg herangezogen werden, fand ich die Entwicklung spannend und nachvollziehbar.
Schon allein der Mut, die Kernkategorie „Pflege gestalten lernen“ zu formulieren, scheint mir genial. Allgemeiner und doch präziser geht es nicht mehr.
Sieben Kategorien beschreiben diese Kernkategorie näher:
1. Pflegerische Einzelhandlungen lernen am Lernort Pflegepraxis
2. Pflegearbeit organisieren lernen – Arbeitsablaufgestaltung lernen am Lernort Pflegepraxis
3. Gewohnheiten und Routinen ausbilden
4. Lernen und Lehren Pflege zu gestalten am Lernort Pflegepraxis
5. Pflege gestalten lernen am Lernort Schule
6. Pflege gestalten lernen in der Lernwerkstatt.
Zwei „Kategorien mittlerer Ebene“ sind in die Kernkategorie eingeschlossen, nämlich
• „Aufmerksam-Sein lernen“ und
• „Urteilsbildung lernen“.
Dazu kristallisierten sich noch fünf „querliegende Kategorien“ heraus, die zusammen das Modell und die Theorie des „Pflege gestalten in der Pflegepraxis“ ausmachen:
• Das „Theorie-Praxis-Verhältnis“
• Kondensstreifen des Wissens (Prinzipien und Merksätze lernen)
• Modellpersonen oder zur Wirksamkeit erlebten Pflegehandelns
• Die Position als Lernende (Selbstbild, Strategien, Selbstbehauptung lernen)
• Die Lernatmosphäre (Beziehung und Wertschätzung)
Für mich sind die einzelnen Kategorien erst durch ihre Beschreibung und theoretische Begründung einleuchtend geworden, zumal durch ungewohnte und neue Begriffsbildungen keine vorschnellen Assoziationen halfen. Z. B. bei „Kondensstreifen des Wissens“ sind Prinzipien und Merksätze gemeint, was man gut so hätte benennen können.
Nachdem ich das Modell nachvollziehen konnte, wurde mir die Bedeutung für die Lehrer/-Innenausbildung und vor allem auch für die Praxisanleitung bewusst. Obwohl das Ziel der Arbeit auf der Weiterentwicklung der pflegedidaktischen Begriffs- und Theoriebildung liegt, stand für mich die Frage im Vordergrund: Was können die Lehrpersonen in Schule und Pflegepraxis durch diese Arbeit lernen? Jede dieser Kategorien sollte Thema eines Seminars im Studium sein und durch Praxisprojekte, Beobachtungen und Neukonzeptionen von Lernen in Schule und Pflegepraxis das Bewusstsein schärfen und zur Verbesserung von Lehren und Lernbegleitung beitragen.
Die hier vorgelegte empirische Begriffs- und Theoriebildung trägt tatsächlich „zum Lernen und Lehren beruflichen Pflegehandelns“ bei.
Das Buch gliedert sich – nach den einleitenden Kapiteln zu Anlässen, Zielen und Fragestellungen der Arbeit – in einen theoretischen Teil mit der Beschreibung und Begründung des Forschungsdesigns (Kap. 4) und dem „Vorverständnis und der theoretischen Sensibilität“ der Forscherinnen (Kap. 5).
Dies wird durch das Aufzeigen der pflegedidaktischen und pflegewissenschaftlichen Forschung und Theorieentwicklung, zusammen mit erziehungswissenschaftlichen und lehr-lernpsychologischen Wissensdimensionen deutlich. Nachdem in Kapitel 6 „Rechtliche und institutionelle Rahmenbedingungen“ des Forschungsfeldes in Deutschland und Besonderheiten der Ausbildung in der Schweiz dargelegt sind, beginnt mit der „Einführung in die Ergebnisdarstellung“ (Kap. 7) der empirische Teil. Hier werden die Kernkategorie (Kap. 8) und die zwei Kategorien mittlerer Ebene (Kap. 9) ausgeführt. Im 10. Kapitel finden sich dann die Ausführungen zu den fünf „querliegenden Kategorien“.
„Pflege gestalten lernen in der Pflegepraxis“ wird als „eine pflegedidaktische Theorie über das Wirkgefüge des Lernens“ im Kapitel 11 zusammengefasst. Jetzt hilft mir die komprimierte Darstellung aller Kategorien, nachdem ich die vorherigen Kapitel gelesen habe. Durch die Situationsschilderungen der sehr gut nachvollziehbaren Äußerungen von Lernenden, Anleitenden und Lehrpersonen kann so ein inneres Bild entstehen.
Im Kapitel 12 wird die entwickelte Theorie an „zwei Fällen im Lichte der Theorie“ beleuchtet. Es werden der „Erwartungshorizont“ der Lernenden deutlich, das „Pflege gestalten“ sowie die „Hauptproblematiken, die Antworten darauf und die beeinflussenden Elemente“ aufgezeigt. Der „Gegenstandsaufschluss beim Reflektieren“ wird „sichtbar“ (12.1.5). In der Zusammenfassung scheinen fast alle Begriffe der Theorie noch einmal auf. Ich möchte sie gerne im Wortlaut wiedergeben.
„Frau Felder erlebt eine Handlungsproblematik in der Urteilsbildung. Es geht um ein Angemessenheitsurteil, zu dessen Bildung ihr Urteilskriterien fehlen. Ihr „Jetzt habe ich es kapiert“ verweist auf einen flachen und eingefrorenen Gegenstandsaufschluss. Im Interview zeigt sich die unaufgelöste Unsicherheit.
Wir erleben Frau Felder an einem bedeutsamen Schnittpunkt des (Neu)Lernens einer pflegerischen Einzelhandlung. Mit schulisch Gelerntem und erlebtem Pflegehandeln im Erwartungshorizont erlebt sie eine Handlungsproblematik in der Urteilsbildung – droht den Gegenstandsaufschluss einzufrieren, taut ihn im Interview wieder an und berichtet drei Wochen später in einer weiteren Beobachtungssituation, dass sie diese Handlung nun gut beherrsche.
Sollte Frau Felder von Modellpersonen wiederholt Verstöße gegen pflegerische Prinzipien erleben und dass diese verantwortet werden, wird sich im integrierenden Handeln vermutlich eine Routine festigen und vertiefen. Gerade weil sich Frau Felder als Lernende – aber eben machtlos – fühlt, ist sie auf Lehrstrategien angewiesen.
Frau Felder differenziert die Modellpersonen und verfügt über Abgrenzungsstrategien. Stehen positive Modelle zur Verfügung, wird sie sich vermutlich an ihnen orientieren.“ (S. 673)
Doch wie gesagt, es klingt für mich so faszinierend, weil ich verstanden habe, was alles hinter diesen Begriffen steckt. Aber man muss es lesen! Dann wird das Buch zu einem anregenden und herausfordernden Analyse-, Planungs- und Beurteilungsinstrument für die eigene Lehrtätigkeit in Schule wie Pflegepraxis. Vor allem zeigen die positiven Beispiele von Lehrerhandeln auf, dass Modellpersonen nicht nur zur „Wirksamkeit erlebten Pflegehandelns“ für Lernende beitragen, sondern auch als Modelle für pädagogisches Handeln dienen.
Der empirische Teil schließt mit einer „Diskussion zur Theorie“ (Kap. 13), der „Reflexion der Forschungsmethode“ (Kap. 14) und den Hinweisen auf die institutionellen Bedingungen des Lernens und Lehrens (Kap. 15) ab. Der letzte Teil zeigt in aller Kürze die „Relevanz der Erkenntnisse für die Pflegeausbildung“ wie auch für die Lehreraus-, -fort- und -weiterbildung auf (Kap. 16) und verweist auf „Weiterführende Forschungsfragen“ (Kap. 17).
Zu weiterer pflegepädagogischer Forschung bietet diese grundlegende Arbeit genügend Anreize und Herausforderungen.
Zur Situation in der Schweiz sei Folgendes noch bemerkt: Eine vergleichbare intensive Forschung in der Schweiz müsste belegen, ob die sehr positive Beschreibung des „Pflege gestalten lernen“ durch die Lernwerkstatt in der Schweiz auch einem weiteren gestrengen Blick auf die Unterrichtssituation und das betriebliche Lernen in der Pflegepraxis standhalten würde (meine eigene pflegedidaktische Forschung konnte dazu einen Beitrag leisten). Ich kenne z. B. auch das „Zwei-Varianten-Lernen“, wo Lernende das pflegerische Handeln für die Prüfung anders darstellen als für den beruflichen Alltag. Auch ließ sich der Lernzuwachs während der Ausbildung in der Pflegepraxis in meiner Forschung weniger deutlich nachweisen als erwartet. Sicher wird durch die Lernwerkstatt bzw. das Skillslab im Zuge der gesetzlichen Forderung des LTT (Lernen durch Training und Transfer) ein „Praxiscurriculum“ festgelegt, welches das Sensibilisieren, deuten und begründen von pflegerischem Handeln in einem geschützten und begleiteten Rahmen ermöglicht und so „Pflege gestalten lernen“ fördert. Dies kann auf jeden Fall auf Deutschland zur Ausgestaltung von Lernwerkstätten in Pflegeschulen oder Praxisorten ermutigend wirken.
Formal ist das Buch ansprechend gestaltet. Alle Kategorien werden am Ende des jeweiligen Kapitels noch einmal in einer Übersicht mit „Subkategorien, Eigenschaften und Dimensionen“ zusammengefasst und in Schemata dargestellt. Auch sind die oft längeren Textpassagen aus den Interviews eingerückt leicht erkennbar und lesbar. Mühe machten mir nur die Überschriften, die von den Hauptkapiteln bis zu den fünfstelligen Unterkapiteln die gleiche Schriftgröße aufweisen. Ich habe mir mit verschiedenen Farbmarkierungen geholfen. Trotz der Dicke des Buches lässt es sich wunderbar lesen und wird immer spannender, umso länger man der Datenverschränkung auf der Spur bleibt.
Ich möchte alle Lehrpersonen auf diese abenteuerliche Spur locken und ihnen viele Erkenntnisse wünschen!