Demenz (Brinker-Meyendriesch, Elke und Anke Erdmann)Mabuse-Verlag, 2011, Frankfurt am Main, 262 S., 29,90 €, ISBN 978-3-940529-63-3Rezension von: Dr. Sven Lind |
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Die vorliegende Publikation enthält die Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung eines so genannten "Leuchtturmprojektes Demenz", das vom Bundesgesundheitsministerium von April 2008 bis Februar 2010 gefördert wurde. Das Projekt bestand aus der wissenschaftlichen Evaluation des Pflegeheimes Haus Schwansen in Rieseby (Schleswig-Holstein) als Modellheim und die Übertragbarkeit der Konzeption dieser Einrichtung in zwei so genannten "Transferheimen" in Büdelsdorf und Gettorf (ebenfalls Schleswig-Holstein).
Das Pflegeheim Haus Schwansen mit 61 Plätzen ist eine Einrichtung für Demenzkranke, die vor allem bezüglich ihres differenzierten Versorgungsangebotes gemäß der demenzspezifischen Verhaltenssymptomatik der Bewohner in Fachkreisen recht bekannt ist. Darüber hinaus wird eine "integrierte Weiterbildungskultur" in Gestalt der Angebote des "Haus-Schwansen-Seminars" gepflegt, die sowohl für die eigenen Mitarbeiter als auch externe Pflegende konzipiert sind. Dies soll zu einem ständigen Austausch von Theorie und Praxis zwecks Verbesserung der Leistungsqualität führen. Im Haus Schwansen werden u. a. folgende Versorgungskonzepte angewendet: integrative Validation, basale Stimulation, Kinästhetik, Milieutherapie und Musiktherapie. Die Hauptuntersuchungsmethoden bestanden aus der teilnehmenden Beobachtung und der Befragung der Mitarbeiter.
Die Versorgungsbereiche sind im Haus Schwansen strikt nach dem Homogenitätsprinzip ausgerichtet. Die Einrichtung verfügt über keine Sicherung der Ausgänge im Sinne einer beschützenden Unterbringung. Von den 57 demenzkranken Bewohnern befinden sich 44 im Stadium einer schweren Demenz (MMSt unter 10), sieben im mittelschweren Stadium (MMSt unter 20) und sechs Bewohner im leichten Stadium (MMSt unter 24). Folgende spezifischen Wohnbereiche werden vorgehalten:
- In der "Großen Gruppe" sind bis zu 30 Demenzkranke ohne demenzspezifische Verhaltensauffälligkeiten mit dem Schwerpunkt einer festen Tagesstruktur und entsprechenden Beschäftigungsangeboten untergebracht.
- In zwei kleineren Wohngruppen (maximal 12 Plätze) leben Bewohner mit demenztypischen Verhaltensweisen wie u. a. ständiger Unruhe und störenden Lautäußerungen. Für diese Wohngruppen besteht eine Leistungs- und Qualitätsvereinbarung mit den Pflegekassen nach § 80a SGB XI (besondere stationäre Dementenbetreuung).
- In der "Insel" ähnlich einer Pflegeoase sind in einem großen Raum maximal elf Bewohner im fortgeschrittenen Stadium der ständigen Bettlägerigkeit untergebracht.
Die Ausführungen sind in drei Kapitel untergliedert. Das erste Kapitel beinhaltet eine Einführung in die Thematik "das Heim als Arbeitsplatz". Hieran anschließend wird ein Überblick über das Projekt, den Untersuchungsgegenstand und die einzelnen Erhebungsschritte gegeben. Das zweite Kapitel mit dem Titel "Haus Schwansen - ein Modellhaus?" enthält die Darstellung wichtiger Ergebnisse der Untersuchung: die Bildungsarbeit im Haus-Schwansen-Seminar anhand des Grundlagenseminars basale Stimulation und die "Pflege- und Organisationskultur" der Einrichtung. Es handelt sich überwiegend um Beschreibungen des Heimalltags anhand einzelner Strukturelemente der Organisation und der Vorgehensweisen wie Validation und Musiktherapie, die teils mit konkreten Aussagen der Mitarbeiter in Form von Ausschnitten aus den Interviews unterlegt werden. Im dritten Kapitel werden die Ergebnisse des Lerntransfers von der Modelleinrichtung in die beiden "Transferheime" zusammengefasst. Ein Transfer konnte nur in einem äußerst begrenzten Rahmen realisiert werden, da die Versorgungs- und Organisationsstrukturen der beteiligten Einrichtung zu verschieden waren.
Bei der Bewertung der vorliegenden Publikation steht das Modell des untersuchten Heimes im Mittelpunkt, das unter dem Aspekt des Standes der Versorgungsforschung im stationären Bereich der Demenzpflege sowohl Licht- als auch Schattenseiten aufweist, die im Folgenden angeführt werden.
Die positiven Seiten der Konzeption der Einrichtung lassen sich mit den folgenden Faktoren belegen:
- Die strikte Anwendung des Homogenitätsprinzips bei der Lebensweltgestaltung, das in den Niederlanden bereits seit Jahrzehnten praktiziert wird. Das Zusammenleben Demenzkranker gemäß dem Krankheitsverlauf führt zu einer bemerkbaren Senkung der Belastungen für die Demenzkranken und die Pflegenden.
- Die Praktizierung des Stetigkeitskonzeptes in Gestalt einer ständig wiederkehrenden Tagesstrukturierung, die ebenfalls zur Steigerung der Lebenszufriedenheit und des Wohlbefindens beiträgt, wie Studien gezeigt haben.
- Die fehlende beschützende Unterbringung in einer Spezialeinrichtung für Demenzkranke in Gestalt gesicherter Ausgänge, die ein unbeaufsichtigtes Verlassen in der Regel verhindert, stellt für die Bewohner ein massives Gefährdungspotential ihrer körperlichen Unversehrtheit dar. Für die Pflegende und Betreuenden bedeutet dieser Sachverhalt ein zusätzliches Belastungselement, denn oft machen sie sich bewusst oder unbewusst Gedanken über den Verbleib von Bewohnern, die sie längere Zeit nicht gesehen haben.
- Die unreflektierte Verwendung von Umgangsweisen wie die Validation und die basale Stimulation, die bisher ihre Wirksamkeitsnachweise in der Demenzpflege nicht erbracht haben. Im Gegenteil, beide Verfahren sind für Demenzkranke im mittelschweren Stadium geradezu kontraproduktiv.
- Das Zulassen unbezahlter Mehrarbeit zum Beispiel in Gestalt der Sterbebegleitung und der Mitwirkung bei den Taize-Andachten ist ein weiterer struktureller Fehler. Abgesehen von der Missachtung des Arbeits- und Tarifrechtes bedeutet diese Mehrarbeit eine deutliche Minderung der Erholungs- und Regenerationszeiten der Pflegenden. Die Demenzpflege ist eine körperlich und seelisch sehr anstrengende Tätigkeit, daher sollte jedes zusätzliche Belastungselement in der Arbeitsorganisation strikt vermieden werden, das sich in der Regel negativ auf das soziale Milieu und damit das Wohlbefinden der Bewohner auswirkt.
- Ebenso belastend für das Arbeitsklima sind die ständigen Fortbildungstermine, die oft zulasten der Mittagspausen und Übergaben stattfinden. Hinzu kommen ständig hausinterne Projekte, die von den Mitarbeitern mitgetragen werden. Derartige Aktivitäten bilden zusätzliche Stressoren für das Personal.
Es gilt somit das Fazit zu ziehen, dass die Konzeption des Hauses Schwansen den Prinzipien einer angemessenen Demenzpflege und Demenzbetreuung nicht gerecht werden kann. Es überrascht, dass eine derartige "Pflege- und Organisationskultur" seitens des Bundesgesundheitsministeriums als ein "Leuchtturm" der stationären Demenzpflege verstanden wird.