Nahrungsverweigerung in der Pflege (Borker, Siegfried )Verlag Hans Huber, Bern, 2002, 358 S., 80 Fotografien, 12 Abb., 26,95 € - ISBN 3-456-83624-4Rezension von: Paul-Werner Schreiner |
![]() |
Nahrungsverweigerung ist in allen Bereichen pflegerischer Arbeit, in denen alte, behinderte und verwirrte Menschen betreut werden, ein dauerhaft präsentes Problem. Nicht selten stehen die Pflegenden ratlos am Bett eines Menschen, der einfach nicht essen und/oder trinken will. Da noch weitgehend Konsens darüber besteht, dass in unserer Gesellschaft niemand verhungern soll und auch das Argument, dass der Mensch irgendwann nicht mehr esse und sterbe, angesichts der Künstlichkeit der Situation am Lebensende nicht tauglich ist, werden Menschen, die nicht mehr essen und trinken, von zu Hause oder auch aus Pflegeeinrichtungen in Kliniken gebracht und dort parenteral oder über Sonden enteral künstlich ernährt. Bis es soweit gekommen ist, ist die Nahrungsverweigerung nicht selten Ursache und/oder auch nur Anlass für offene oder versteckte Gewalt an Pflegebedürftigen - Grund genug, sich mit dem Problem der Nahrungsverweigerung zu beschäftigen.
Der Autor des vorliegenden Buches hat sich schon in seiner Diplomarbeit zum Abschluss seines Pflegemanagementstudiums mit der Frage der Nahrungsverabreichung beschäftigt; er untersuchte in einer empirischen Studie die Erfahrungen von Pflegenden beim Essenreichen, das oft von allen Beteiligten als problematisch und wenig zufrieden stellend erfahren wird. In seiner Dissertation an der freien Universität Witten/Herdecke widmete sich Siegfried Borker nun dem Phänomen der Nahrungsverweigerung.
Zunächst werden in einem Kapitel die Nahrung und die Nahrungsaufnahme als Grundbedingungen des Lebens sowie in einem weiteren Kapitel die Störungen der Nahrungsaufnahme dargestellt. In jeweils einem Kapitel werden der Kenntnisstand zur Nahrungsaufnahme in der Pflege und der Kenntnisstand zur Nahrungsverweigerung referiert - interessant ist, dass die Nahrungsverweigerung als pflegerisches Problem bereits im 19. Jahrhundert thematisiert wurde.
Im Weiteren wird das Forschungsprojekt vorgestellt, die Forschungsmethodik, vor allem die Prinzipien der Grounded Theory und die Bedingungen des Einsetzens von Fotografie in der Forschung, sowie die Zielsetzung, Planung und Durchführung. Die Forschungsfrage lautete: Wie lässt sich das Phänomen "Nahrungsverweigerung" beschreiben, durch welche Faktoren wird es möglicherweise ausgelöst und welches Verhalten zeigen die helfenden sowie die nahrungsverweigernden Personen in der Situation der Nahrungsverweigerung. Die Untersuchung umfasste zehn Fallberichte. Es wurden jeweils Fotodokumentationen angefertigt sowie sowohl die betroffenen Menschen und Angehörige als auch eine Pflegende interviewt. Die zehn Fallberichte samt Interviews und die Auswertung nehmen den größten Teil des Buches ein.
In der theoretischen Diskussion der Daten definiert der Autor Nahrungsverweigerung; danach ist zunächst gibt es eine akute und eine chronische Nahrungsverweigerung, die jeweils verbal und nonverbal geäußert werden kann. Er entwirft ferner ein Nahrungsverweigerungsmodell, in dem Konzepte "müssen", "nicht wollen" und "nicht können" sowie die Konzepte "geduldetes Spannungsfeld", "Spannungsaufbau" und "Spannungsabbau", die jeweils auf einer Skala von sehr gering bis sehr hoch ausgeprägt sein können, eine Rolle spielen und miteinander in Beziehung gesetzt werden.
Die Nahrungsverweigerung wird nicht als Krankheit, sondern als akut auftretende oder chronisch sich entwickelnde und verlaufende Störung verstanden. Die helfenden Personen sehen sich verpflichtet, dem betroffenen Menschen Nahrung und Flüssigkeit einzugeben; ein langsam essender Mensch stört die Abläufe in der Institution. Selten, so der Autor, würde aber nach den Ursachen der Nahrungsverweigerung gefragt; es gehe eigentlich immer nur den ausreichend ernährten Pflegebefohlenen - eine Esskultur, die Ästhetik von Essen und Trinken spielten, wenn überhaupt, nur eine nachgeordnete Rolle.
Abschließend formuliert der Autor zwölf Leitgedanken zur Verbesserung der Nahrungsaufnahme; sie beziehen sich auf
die Art und Weise des Essensreichen,
- die zu bedenkenden Erkrankungen des Hilfebedürftigen,
- den Ort der Nahrungsaufnahme,
- die Ästhetik und Atmosphäre bei der Nahrungsaufnahme,
- die Auswahl, Vorbereitung und Art der Speisen,
- den Zeitpunkt der Mahlzeiten,
- die Ess- und Trinkhilfen,
- die Menge der aufgenommenen Nahrung und Flüssigkeit,
- die Dokumentation von Ernährungszustand, -probleme und -gewohnheiten,
- den Willen und die Würde des Hilfebedürftigen,
- die Rolle des Angehörigen,
- die Qualifikation der helfenden Person.
Die Ausführungen zu den einzelnen Punkten sind nicht spektakulär; gegen sie wird aber, so die Erfahrung des Rezensenten vielfach verstoßen, so dass es vermutlich gute Gründe gibt, sie zu formulieren. Von besonderer Bedeutung ist vielleicht die Anmerkung zur Qualifikation der helfenden Person: Sie muss Kenntnisse über Krankheiten haben, die das Ess- und Trinkverhalten beeinflussen können; sie muss ferner Kenntnisse über die Störungen und die entsprechenden Maßnahmen haben. Daraus folgt, so Siegfried Borker "Auszubildende, Zivildienstleistende, Praktikanten und Angehörige nur unter Anleitung und angemessener Aufsicht dem Bedürftigen das Essen und Trinken reichen dürfen. Die Gesamtverantwortung bleibt bei der mindestens dreijährig ausgebildeten Pflegeperson." - dem ist wohl nicht hinzuzufügen.
Die Studie "Nahrungsverweigerung in der Pflege" ist lesenswert. Wer für die im pflegerischen Alltag allgegenwärtigen Probleme Patentlösungen erwartet, wird allerdings enttäuscht. Er wird aber vielleicht manches besser verstehen, und damit auch das eigene Verhalten in mit der Nahrungseingabe verbundenen Problemsituationen überdenken können.
Kritisch anzumerken bleibt, dass es wohl legitim ist, wenn via Pflegeforschung ein Problem pflegerischen Handelns untersucht ist. Es ist aber hinsichtlich der Nahrungsaufnahme zu bedenken, dass die Versorgung des betroffenen Menschen immer ein multiprofessionelles Geschehen ist. Da bei der Nahrungsaufnahme das "Nicht-Können" ein nicht zu unterschätzendes Problem darstellt, ist der erhebliche Kenntnisstand der klinischen Linguistik bzw. der Logopädie zu beachten; dies bleibt in dem Buch weitgehend unberücksichtigt. Ebenso unberücksichtigt bleibt die Frage, inwieweit und unter welchen Bedingungen das Verweigern von Nahrung auch zu akzeptieren ist - mit allen Folgen. Die damit verbundene sehr schwierige ethische Diskussion bestimmt derzeit offen oder verdeckt den Alltag in vielen Klinikabteilungen und Pflegeeinrichtungen. Eine Studie über Nahrungsverweigerung, die diese Frage eigentlich ausklammert, bleibt auf halber Strecke stehen.